Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Commissario Tron 5: Requiem am Rialto

Titel: Commissario Tron 5: Requiem am Rialto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
Blick auf seinen
Löffel gerichtet, um die Gesichter - die Visagen - auf der anderen Seite
des Tischtuchs nicht sehen zu müssen. Dabei war das
Erdbeerparfait auch kein angenehmer Anblick: Pürierte
Erdbeeren erinnerten ihn unweigerlich an blutige Innereien. Dass es
Leute gab, die diese schleimige rote Masse mit sommerlicher Frische
assoziierten, hatte er nie verstanden. Also begnügte er sich
damit, hin und wieder den Löffel in den blutigen Brei zu
senken, pro forma ein wenig davon in den Mund zu führen und
nicht allzu oft zur Stutzuhr auf dem Kamin zu blicken.
    Es war kurz vor acht
Uhr, als er sein Schlafzimmer betrat. Er entzündete die
Petroleumlampe auf seinem Nachttisch und verriegelte die Tür.
Dass ihn um diese Zeit noch jemand aufsuchen würde, war
unwahrscheinlich, aber er hatte nicht die Absicht, ein Risiko
einzugehen. Dann ging er zu seinem Regal und räumte ein halbes
Dutzend Bücher aus dem obersten Brett, um an eine kleine
Holzkiste zu gelangen, die er dahinter versteckt hatte. Er
öffnete die Kiste, nahm das Buch heraus, das dort unter zwei
Masken lag, und setzte sich an seinen Schreibtisch. Nachdem er noch
einmal gelauscht hatte, ob sich Schritte seiner Tür
näherten, schlug er den Band auf, um die letzten zwanzig
Seiten zu lesen. Es handelte sich um einen Roman, dessen
Lektüre ein sittliches Zwielicht auf seine Person geworfen
hätte, und in seiner Stellung war es ratsam, jede
Zweideutigkeit zu vermeiden.
    Dabei war die
Geschichte, wenn auch von skandalöser Unmoral, bei weitem
nicht so schlüpfrig, wie er es erwartet hatte. Dass es, wie er
jetzt beim Lesen feststellte, mit den geschilderten Personen keinen
guten Ausgang nehmen würde, überraschte ihn nicht. Der
letzte Satz des Romans, der mit dem Kreuz der Ehrenlegion, war eine
hübsche Pointe — aber war es wirklich nötig, die
kleine Berta in einer Baumwollspinnerei enden zu lassen? Und waren
die Tränen nötig, die ihm nach der Lektüre die
Wangen hinabliefen? Er griff nach seinem Taschentuch, trocknete
sich die Wimpern und dachte über den windelweichen Kern nach,
der sich hinter seiner zuweilen schroffen Fassade
verbarg.
    Als es vom
nahegelegenen Kirchturm neun schlug, klappte er das Buch zu, stand
auf und trat an das halbgeöffnete Fenster. Zwar regnete es
nicht mehr, aber die Luft war feucht und voller Nebel. Der
langgezogene Ruf eines Gondoliere klang vom Canalazzo zu ihm
herauf, seine Stimme hörte sich matt und leise an, wie durch
Watte. Wenn der örtliche Nebel, dachte er, die
berühmte nebbia, bis zum morgigen Tag anhielte,
wäre man zweifellos gezwungen, den Schiffs- und
möglicherweise auch den Eisenbahnverkehr einzustellen. Dass
der dichte Nebel die Karnevalslust der Einheimischen und der
Fremden dämpfen würde, bezweifelte er. Es war eher zu
vermuten, dass die Maske aus feuchter Luft, die jetzt über der
Stadt lag, dem Diskretionsbedürfnis der Nachtschwärmer
entgegenkam und ihren Ausschweifungen einen zusätzlichen
Schwung verlieh. Er ging zu seinem Schreibtisch, legte das Buch in
den Kasten zurück und verstaute ihn wieder. Dann stellte er
stirnrunzelnd fest, dass er — ohne auch nur eine Sekunde
darüber nachgedacht zu haben — die beiden Masken nicht in den hölzernen
Kasten zurückgelegt hatte. Was nur eines bedeuten
konnte.
    Nein —
eigentlich hatte er nicht die Absicht gehabt, das Haus noch in
dieser Nacht zu verlassen. Andererseits war nicht zu bestreiten,
dass sich bestimmte Dinge unter der Tarnkappe der nebbia leichter verrichten
ließen als in einer klaren Mondnacht. Und so gesehen,
überlegte er weiter, wäre es geradezu töricht, die
Hände in den Schoß zu legen und sich bis zum Einschlafen
über das Schicksal der kleinen Berta zu grämen. Er zog
kurz entschlossen seinen Mantel über, ging wieder zum
Schreibtisch, schwankte ein paar Sekunden und entschied sich
schließlich für die schwarze Maske.
    Dass ihm auf dem
oberen Flur und auch im Treppenhaus niemand begegnen würde,
hatte er erwartet. Im Palazzo Cavalli zog man sich früh in die
Zimmer zurück und ging entsprechend zeitig zu Bett. Unten im
Erdgeschoss benutzte er den Gartenausgang und zog die Tür
leise hinter sich ins Schloss. Dann durchquerte er den Garten, in
dem er sich inzwischen auch bei völliger Dunkelheit
orientieren konnte, öffnete die Pforte zur Straße und
trat hinaus. Als er die neblige Nachtluft einatmete,
überschwemmte ihn plötzlich eine Welle des Wohlbehagens.
Zugleich fühlte er sich stark, unangreifbar und

Weitere Kostenlose Bücher