Cook, Robin
hatte.
»Am besten bleiben Sie erst mal ein paar Minuten so sitzen«, riet Myron. »Wenn dann immer noch alles okay ist, entferne ich die Kanüle, und Sie können nach unten gehen und sich umziehen.«
»Okay«, entgegnete Joanna. Während der Pfleger seine Eintragungen beendete, sah sie sich um. Außer ihrem standen in dem Raum noch drei weitere Betten, die jedoch alle unbelegt waren. Das Zimmer machte einen ziemlich antiquierten Eindruck; all die Verschönerungen und Modernisierungen, die in anderen Bereichen der Klinik vorgenommen worden waren, hatte man sich hier eindeutig gespart. Die Kacheln an den Wänden und die Bodenfliesen waren abgenutzt, die Fenster alt und verfallen, und die Waschbecken waren aus Speckstein.
Die Ausstattung des Aufwachraums erinnerte Joanna an den archaischen Operationssaal, in den sie für den Eingriff gerollt worden war. Allein der Gedanke an diesen Raum jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Der OP machte einen derart grausigen Eindruck, dass sie sich ohne weiteres vorstellen konnte, wie dort vor einigen Jahrzehnten gegen den Willen der schutzbedürftigen Patienten Leukotomien vorgenommen worden waren. Beim ersten Anblick des OPs hatte sie an ein schauerliches Gemälde aus einem früheren Jahrhundert denken müssen, das eine Vorlesungsstunde in Anatomie darstellte. Auf dem Gemälde waren die in der Dunkelheit verschwindenden, nach oben ansteigenden Sitzreihen von lüstern auf einen entblößten, geisterhaft bleichen Körper hinabschielenden Männern besetzt.
Plötzlich ging die Tür des Aufwachraums auf. Joanna drehte sich um und sah einen kleinen, dunkelhaarigen Mann auf sie zukommen. Seine fahle Gesichtsfarbe erinnerte sie ein weiteres Mal an das antike Gemälde. Der Mann blieb abrupt stehen. Im ersten Moment schien er überrascht, doch dann schlug die Überraschung offenbar in Wut um. Er trug grüne OP-Kleidung und darüber einen langen weißen Arztkittel.
»Hallo, Dr. Saunders«, rief Myron ihm zu und sah von seiner Arbeit auf.
»Habe ich Sie eben falsch verstanden, Mr Hanna?«, fuhr der Arzt den Pfleger an, ohne den Blick von Joanna abzuwenden. »Haben Sie nicht behauptet, die Patientin schlafe noch?«
»Als wir telefoniert haben, schlief sie auch noch«, stellte Myron klar. »Sie ist gerade aufgewacht, und es ist alles in Ordnung.«
Joanna empfand den starren Blick des Mannes als äußerst unangenehm. Menschen, die ihre Macht offen zur Schau trugen, bereiteten ihr immer ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Daran war vermutlich ihr Vater schuld, der Geschäftsführer einer Ölfirma war und stets auf Distanz und eiserne Disziplin Wert legte.
»Blutdruck und Puls sind vollkommen normal«, informierte Myron Dr. Saunders. Er erhob sich, um ihm seine Aufzeichnungen zu zeigen, doch der Arzt bedeutete ihm, sich keine Mühe zu machen.
Ohne eine Miene zu verziehen, machte Dr. Saunders einen weiteren Schritt auf Joanna zu. Seine breite Nase vermittelte fälschlicherweise den Eindruck, dass seine Augen zu eng beieinander lagen. Am auffälligsten war jedoch, dass seine Augen leicht unterschiedliche Farben hatten; ferner stach eine einzige weiße Haarsträhne ins Auge, die einen starken Kontrast zu seinem ansonsten dunklen Haar und seiner leicht wirren Frisur bildete.
»Wie geht es Ihnen, Miss Meissner?«, fragte er.
Sein Ton erschien Joanna genauso distanziert und gefühlskalt wie der ihres Vaters, wenn er sich danach erkundigt hatte, wie ihr Tag in der Grundschule gewesen war. »Ganz okay«, erwiderte sie, wobei sie nicht sicher war, ob der Mann sich tatsächlich auch nur die Bohne für ihr Befinden interessierte oder ob er womöglich gar keine Antwort erwartete. Trotz ihrer Vorbehalte gegenüber dem Arzt nahm sie sich zusammen und fragte: »Haben Sie die Punktion bei mir durchgeführt?« Der Anästhesist hatte ihr das Narkosemittel verabreicht, bevor der operierende Arzt den OP betreten hatte.
»Ja«, erwiderte Dr. Saunders in einem Ton, der jegliche weitere Nachfragen verbot. »Dürfte ich mir bitte kurz Ihren Bauch ansehen?«
»Selbstverständlich«, murmelte Joanna und warf dem jungen Pfleger einen verzweifelten Blick zu. Myron kam sofort an die andere Bettseite geeilt, bat sie, sich flach auf den Rücken zu legen, und deckte ihr behutsam die Beine und den Schambereich zu.
Dr. Saunders zog vorsichtig das Flügelhemd hoch, wobei er darauf achtete, Joannas Unterleib und ihre Beine mit dem Laken bedeckt zu lassen. Dann inspizierte er die entblößte Taille.
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