Cook, Robin
glitzerndes Licht, das durch die alten, hochgewachsenen Kiefern gerade noch auszumachen war. »Sehen Sie das Funkeln? Es sind Sonnenstrahlen, die sich auf der Oberfläche des Mühlenteiches spiegeln. Die Gebäude der Farm gruppieren sich um den Teich herum.«
»Und was ist mit dem Ziegelsteinschornstein dahinten?«, fragte Deborah und zeigte auf eine Rauchwolke, die noch weiter rechts über den Baumkronen gen Himmel stieg. »Gehört der auch noch zum Wingate-Komplex?« Der Rauch verließ den Schornstein als weiße Fahne und ging auf seinem Weg nach Osten in einen dunklen, rotgrauen Streif über.
»Ja«, erwiderte Claire. »Er gehört zu dem alten Heizkraftwerk, mit dem unter anderem die Heißwasserversorgung sichergestellt wurde. Ein interessantes Gebäude. Als das alte Cabot hier noch untergebracht war, diente es zudem als Krematorium.«
»Als Krematorium?«, platzte Deborah heraus. »Wozu hatten sie denn hier draußen ein Krematorium?«
»Wahrscheinlich ging es nicht anders«, vermutete Claire. »Damals wurden die meisten Patienten der psychiatrischen Klinik und der Heilanstalt für Tuberkulosekranke einfach von ihren Familien abgeschoben und allein gelassen.«
Deborah lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. Was für eine furchtbare Vorstellung, dass eine derart isolierte Heilanstalt auch noch über ein eigenes Krematorium verfügte! Sie wollte gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, als Claires Pager piepte. Sie warf einen Blick auf die LCD-Anzeige. »Die Nachricht ist für Sie, Miss Cochrane. Man erwartet Sie im Operationssaal.«
Deborah seufzte erleichtert auf. Sie wollte den Eingriff endlich hinter sich bringen und mit Joanna nach Hause fahren.
K APITEL 4
15. Oktober 1999, 9.05 Uhr
Joanna machte kein Übergangsstadium durch. Gerade war sie noch im Tiefschlaf gewesen, jetzt war sie plötzlich hellwach und starrte an die hohe, verzierte Decke, die ihr völlig fremd vorkam.
»Sieh an, Dornröschen ist aufgewacht!«, hörte sie jemanden rufen.
Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und blickte in das Gesicht eines ihr unbekannten Mannes. In ihrer momentanen Verwirrung wollte sie gerade fragen, wo sie eigentlich sei, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel.
»Dann wollen wir mal Ihren Blutdruck messen«, sagte der Krankenpfleger und griff zu seinem Stethoskop. Er trug OP-Kleidung und war etwa im gleichen Alter wie Joanna. Seinem Namensschild zufolge hieß er Myron Hanna. Er pumpte die Manschette auf, die er ihr bereits um den linken Oberarm gelegt hatte.
Joanna musterte das Gesicht des jungen Pflegers. Während er mit der Hand den Schalltrichter des Stethoskops gegen ihre Armbeuge presste, konzentrierte er sich voll auf die Druckanzeige. Als die Luft aus der Manschette wich, spürte Joanna ihr Blut durch den Arm strömen. Der Mann lächelte sie an und befreite sie von dem Messgerät.
»Ihr Blutdruck ist absolut in Ordnung«, stellte er fest und griff nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu messen.
Joanna wartete, bis er fertig war. »Wann bin ich denn dran?«, fragte sie schließlich.
»Sie haben alles längst hinter sich«, erwiderte Myron und notierte die Messergebnisse auf einem Klemmbrett.
»Sie machen wohl Witze«, entgegnete Joanna. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
»Aber nein«, beharrte Myron. »Sie haben den Eingriff wirklich schon hinter sich, und zwar erfolgreich. Zumindest nehme ich das an. Dr. Saunders dürfte zufrieden sein.«
»Das kann ich gar nicht glauben«, stellte Joanna fest. »Meine Freundin sagt doch, dass einem nach einer Narkose immer schlecht ist.«
»Das kommt heute nur noch ziemlich selten vor«, entgegnete Myron. »Und mit Propofol fast nie. Das Zeug ist wirklich super, nicht wahr?«
»Haben sie mir das verabreicht?«
»Ja.«
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach neun.«
»Wissen Sie, ob meine Freundin, Deborah Cochrane, ihren Eingriff auch schon hinter sich hat?«
»Sie liegt gerade in diesem Augenblick auf dem OP-Tisch«, erwiderte Myron. »Wollen Sie mal versuchen, sich auf die Bettkante zu setzen?«
Joanna richtete sich vorsichtig auf. Die Infusionskanüle, die immer noch in ihrem rechten Arm steckte, schränkte ihre Beweglichkeit ein wenig ein.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Myron. »Ist Ihnen schwindelig? Oder haben Sie sonst irgendwelche Beschwerden?«
»Nein, es geht mir gut«, versicherte Joanna. »Ich fühle mich absolut normal.« Sie konnte es kaum glauben, dass sie nicht einmal Schmerzen
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