Coole Geschichten für clevere Leser
klickte hörbar nach unten. Er fühlte sich gar nicht wohl. Ein Schmerz, vertraut aus jahrelangen Schilderungen von Patienten, zuckte von seinem Brustbein in den Arm. Wegen dieses Schmerzes hatte er vor einer Woche die Praxis seines Freundes aufgesucht.
»Es sieht gar nicht gut aus, Charlie«, sagte Joel Winkler ernst.
Dann reichte er Hazletine den Aktendeckel, so sauber geschrieben, so methodisch angelegt.
Der geheime Kummer
Policenanspruch Nr. 980113-C Versicherungsnehmer: George Haley Trivell Art der Versicherung: Gewöhnliche Lebensversicherung mit Unfallverdoppelung Versicherungsbetrag: $ 80 000 Begünstigte(r): (Mrs.) Jane Trivell Ermittler: William A. Spyker Empfehlung: Anspruch abgelehnt
Es tut mir leid, daß die Sache sich so lange hingezogen hat. Ich habe mich lange täuschen lassen.
Am 9. April erhielt ich die Berichte über George Trivells Tod, die mir ganz in Ordnung vorkamen. Trivell war fünfunddreißig und wäre im kommenden Monat sechsunddreißig geworden, hätten auf der New Yorker Schnellstraße nicht seine Bremsen versagt und ihn auf einen Sattelschlepper auffahren lassen. Er war leitender Angestellter in einer Kleiderfabrik. Er hatte keine Kinder. Seine Frau ist die Alleinbegünstigte aus unserer Police.
Als erstes sprach ich mit Captain John LeMay von der Highway Police, North County. LeMay sagte, Trivell habe über hundert Sachen draufgehabt, nicht viel mehr, als an der Stelle erlaubt war. Es war früh am Morgen, und etliche große Lkws waren unterwegs in die Stadt. Der Wagen vor Trivell verlangsamte plötzlich die Fahrt, und er versuchte dasselbe zu tun, wobei seine Bremsen versagten. Er steuerte auf die linke Fahrspur und prallte gegen die Rückseite des Sattelschleppers. Man hat die Trümmer untersucht und im Bremsschlauch ein Loch gefunden; soweit feststellbar, war nichts Seltsames dran. LeMay sprach von »Pech«.
Dann besuchte ich die Witwe.
Es war nicht weiter schlimm. Sie hatte zu Anfang viel geweint, doch inzwischen ging es ihr schon besser, sie war gefaßt. Sie ist etwa einunddreißig und eine Augenweide. Schmale, hohe Wangen, doch ansonsten hübsch gerundet. Sie ließ nur einmal die Tränen strömen, als ich sie nach den Fahrkünsten ihres Mannes fragte.
»Er war ein guter Fahrer«, sagte sie. »Ich habe ihn immer wieder gescholten, weil er zu schnell fuhr, doch er hatte nichts gegen meine Klagen. Er war ja immer so tolerant.« Das war der Augenblick, als sie zu heulen begann.
In diesem Moment war ich so gut wie gewillt, meinen Abschlußbericht zu schreiben und die Auszahlung zu befürworten, aber dann hielt ich es doch für besser, mich noch anderweitig über die Trivells zu informieren, zuerst mal bei Bekannten. Die engsten Freunde waren ein Ehepaar namens Wolman, die in der Stadt Nachbarn gewesen waren, ehe die Trivells in den Vorort zogen. Die Wolmans lobten ihre Freunde in den höchsten Tönen. Ein glückliches Paar, sagten sie. Einander sehr zugetan. Wie das eben so ist.
Anschließend sprach ich bei einer gewissen Hortense Carver vor, einer altjüngferlichen Dame, die im Haus neben den Trivells wohnt. Das Haus der Carvers liegt etwa fünfzehn Meter von der Seitenfront der Trivells entfernt. Hortense Carver war von Jane Trivell etwa dreißig Jahre entfernt. Ihre Ansichten unterschieden sich nun radikal von denen der Wolmans.
»Glücklich?« fragte sie. »Das hängt davon ab, was Sie darunter verstehen.«
Da ich keine Haarspaltereien anfangen wollte, fragte ich: »Haben Sie die Trivells gut gekannt, Miss Carver?«
»Überhaupt nicht. Die Leute waren nicht sehr kontaktfreudig. Sie sind vor sechs Monaten eingezogen und haben mich noch nicht zu sich eingeladen.«
»Aber haben Sie einen Grund zu der Annahme, daß die beiden nicht miteinander auskommen?« fragte ich.
»Ich weiß, daß sie sich nicht vertragen haben.«
»Woher?«
»Oh, nicht daß sie sich stritten oder dergleichen. Kein Muckser war von drüben zu hören, weder am Tage noch bei Nacht. Sie waren ja auch viel unterwegs. Er hat laufend ›Überstunden‹ gemacht. Jeder, der einigermaßen gute Augen hatte, wußte, daß da etwas nicht stimmte. Oder jedenfalls gute Ohren.«
»Ohren? Haben Sie nicht eben gesagt, daß sich die beiden nicht gestritten haben?«
Daraufhin begann Miss Carver zu flüstern.
»Von Streitereien habe ich nichts mitbekommen. Die arme Frau hat überhaupt nicht auf ihre Rechte gepocht. Trotzdem habe ich sie gehört. Im letzten Monat jeden Nachmittag. Sie hat sich die Augen
Weitere Kostenlose Bücher