Coole Geschichten für clevere Leser
und war erschrocken. Sid hatte recht: es war eine Riesenmenge.
Aber dann dachte er wieder an Mama, konzentrierte sich auf ihre Güte und spürte die Zuversicht zurückkehren. Er marschierte in die Mitte der Bühne und richtete den Blick zum Himmel. Auf der anderen Seite des geschlossenen Vorhangs verstummte das Orchester. Das Murmeln des Publikums erstarb.
Raymond sagte: »Schön, Mama, dein Auftritt.«
Nichts geschah.
Raymonds Herz klopfte laut.
»Los, Mama«, sagte er. »Komm runter!«
Um 21.13 Uhr war das Murmeln in der Menge wieder hörbar geworden; und klugerweise warf sich das Orchester noch einmal in die Bresche.
Um 21.30 Uhr war Raymonds Gesicht schweißfeucht. »Mama!« flehte er. »Tu mir das nicht an, Mama! Du hast es mir versprochen. Du hast gesagt, du würdest dich um mich kümmern!«
Um 21.42 Uhr begann das Publikum im Takt zu stampfen, womit das ganze Gebäude bedroht war. Der Theatermanager eilte zu Raymond und sagte: »Tun Sie etwas, Mann, tun Sie doch etwas! Machen Sie wenigstens den Vorhang auf!«
Raymond war dankbar für jede Art von Ratschlag und nickte bedrückt. Der Vorhang hob sich. Als das Publikum ihn sah, begann es zu pfeifen, beruhigte sich aber hoffnungsvoll. Er hob die Arme und sagte: »Meine Damen und Herren, wenn Sie bitte noch etwas Geduld …«
Das war die falsche Eröffnung. Das rhythmische Stampfen begann von neuem, im Takt zu der leisen Orchesterversion von »Bin mit einem Engel verabredet.« Minuten später prallte das erste Wurfgeschoß gegen die Sternenkulisse. Es war ein Orangensaftbehälter – samt Inhalt. Gleich darauf hagelte es ein weiteres halbes Dutzend Getränke, und Raymond wurde zu seiner eigenen Sicherheit von Kulissenschiebern auf die Seite gezogen. Der Theaterdirektor ließ den Vorhang senken, was die Zuschauer noch mehr in Rage brachte.
»Mama! Mama!« schluchzte Raymond. »Wie konntest du mir das antun?«
Um 22.22 Uhr wagte sich der Direktor schüchtern vor den Vorhang und kündigte in knappen Worten an, daß die Eintrittsgelder zurückgezahlt würden. Das löste einen Sturm zu den Ausgängen aus, bei dem sechs Menschen auf der Strecke blieben.
Raymond steckte nun tiefer in der Klemme denn je. Er hatte etwa zwanzigtausend Dollar Schulden, in erster Linie beim »Freund«, dessen Abgesandte in der ersten Reihe gesessen hatte, um die Investition im Auge zu behalten. Raymond konnte das Theater unbehelligt verlassen.
Er kehrte in sein Hotelzimmer zurück und verschloß die Tür vor der Welt.
Im Bad starrte er in den Spiegel und sagte: »Mama, wie konntest du das nur tun? Sag es mir – wie konntest du?«
Er öffnete seinen Koffer und zog den 45er Colt unter dem Pyjama hervor. Er schaute nach, ob die Trommel geladen war. Ja, die Patronen steckten. Nicht alles würde ihm heute abend mißlingen.
Er setzte sich, trank ein halbes Glas Whisky und zählte dann im Geiste seine Sorgen auf. Aussichtslos. Er legte die Waffe an die Schläfe und drückte ab. Im gleichen Augenblick sah er seine Mutter auf dem Sofa gegenüber sitzen – als interessiertes Publikum.
Der Schuß löste sich.
»Jetzt«, sagte seine Mutter mit zufriedenem Lächeln, »jetzt kann ich mich richtig um dich kümmern.«
Auftritt für die Verteidigung
Miles Crawford, der wieder einmal von der Vergangenheit träumte, räkelte sich im Lehnsessel in der Bibliothek und wirkte trotz seiner grauen Haare geradezu jungenhaft. Jenny, das Hausmädchen, betrachtete ihn mütterlich, ehe sie ihn vorsichtig wachschüttelte.
»Mr. Crawford? Wissen Sie, daß Mr. Brody schon seit einer halben Stunde draußen wartet? Haben Sie ganz vergessen, daß er vorbeikommen wollte?«
»Sam?« Miles war noch überraschend beweglich für seine sechzig Jahre. Hastig stand er auf und ging zur Tür. »Was machst du denn da draußen? Warum hast du mich nicht geweckt?«
Sam Brody, der auf der Couch saß, hob die Bluthundaugen und prostete dem anderen zu. »Du bist ein alter Mann«, sagte er. »Du brauchst deine Ruhe.«
»Das mußt du ausgerechnet sagen«, knurrte Miles und machte kehrt, um einen dicken Wollpullover von seiner Stuhllehne zu holen. »Jenny!« brüllte er. »Stellen Sie den Thermostat hoch, hier ist es ja kalt wie in einem Eisschrank!« Er ließ sich in einen Sessel sinken und erzitterte.
»Was meinst du, Sam? Fahren wir beide dieses Jahr in den goldenen Westen?«
»Pfui«, machte Sam. »Wofür hältst du mich? Ich brauche dich bloß auf zehn Meilen an eine Filmkamera heranzulassen, prompt redest du von
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