Coole Geschichten für clevere Leser
hatten nicht einmal mit Ted sprechen können; man hatte ihn eingeliefert, ihm die Fingerabdrücke abgenommen und ihn wie einen Quarantänefall eingeschlossen. Ein Kriminalbeamter namens Raphael hatte sie zehn Minuten lang empfangen, doch außer den nackten Tatsachen war nicht viel zu erfahren gewesen. Ted und zwei andere Jugendliche waren auf Sauf- und Autotour gegangen; offenbar nicht die erste. Es war zu einem Streit gekommen, den man am Straßenrand mit zehn Zentimeter langen Klingen austrug. Ted hatte den Kampf gewonnen, und Jules Herman, der Verlierer, lag im Kühlfach des Reviers, während seine geschiedene Mutter über dem Toten schluchzte und ihrem nichtsnutzigen Mann die Schuld gab. Jetzt waren sie wieder zu Hause, und Miles sah die Schuld einzig und allein bei sich.
»Was konnte ich tun?« fragte er seinen Anwaltspartner inbrünstig. »Was hätte ich anders machen können? Du kennst doch das verrückte Leben, das ich geführt habe. Zuerst die Karriere in Hollywood, dann der Zusammenbruch, dann die schäbige Anwaltspraxis …«
»Hör auf«, knurrte Sam. »Zerfleisch dich nicht selbst. Was kann das jetzt nützen?«
»Dann die Scheidung von Elena. Dadurch wurde mein Leben nicht gerade vereinfacht. Du weißt, weshalb ich noch einmal geheiratet habe – für Ted. Das weißt du doch, Sam.«
»Ja«, sagte Sam, und seine Bluthundaugen sahen zu Boden.
»Na schön. Fern war nicht gerade der mütterliche Typ , aber glaubst du etwa, sie hätte es nicht versucht? Er ist ein launenhafter Junge, oft niedergeschlagen und unlustig. Ich kann es ihr nicht verdenken, daß sie den Versuch schnell aufgegeben hat.«
»Du mußt ins Bett«, sagte Sam.
»Als ich mit der Filmerei fertig war, hoffte ich, alles würde sich ändern. Ich wollte ihm ein schönes normales Leben verschaffen. Aber es steckt eine gewisse Kälte in ihm, Sam, wie eine chronische Erkrankung. Deshalb trinkt er auch soviel. Es heißt, er war heute abend betrunken, er hat nicht gewußt, was er tat. Das spricht doch sicher zu seinen Gunsten, oder?«
»Du kennst das Gesetz, Miles. Betrunken oder nüchtern – die Geschworenen haben für Mörder nichts übrig.«
Miles schlug mit der Faust auf den Couchtisch. »Ich rede selbst mit den Leuten, Sam. Ich erzähle ihnen, was für ein mieser Vater ich war. Dann verstehen sie, wo die Schuld liegt. Bei mir!«
Er barg das Gesicht in den Händen, und Sam stand auf und setzte sich neben ihn. Aber Miles weinte nicht, er versteckte lediglich sein Gesicht. Sam ging im Zimmer herum und schaltete nacheinander die Lampen aus, um Miles dazu zu bringen, sich schlafen zu legen. Als er sich umdrehte, betrachtete Miles das Teppichmuster.
»Warum eigentlich nicht?« fragte er leise. »Warum soll ich es nicht wirklich tun, Sam?«
»Was tun?«
»Ted vor Gericht verteidigen.«
»Hör mal, Miles, du bist kein Strafverteidiger. Mahnungen, Hausverkäufe, Zivilverfahren, solche Dinge – das kennst du. Aber so etwas nicht.« Sam rieb sich die schmerzende Brust. »Denkst du ernsthaft daran?«
»Warum nicht?« Miles’ Augen funkelten. »Ich bin bei der Anwaltskammer zugelassen. Kein Gesetz verbietet mir, einen Angehörigen der eigenen Familie zu verteidigen. Wer wäre dazu besser in der Lage? Klar, ich besorge mir einen in Strafsachen erfahrenen Anwalt, jemanden, der mir den Prozeß vorbereitet, aber du weißt ja, was eine Jury ist, Sam. Du hast es oft selbst erlebt. Es sind zwölf Menschen, die man überzeugen muß. Menschen, die man dazu bringen muß, daß sie mit einem fühlen. Wer könnte das besser als ein Vater?«
»Meinst du einen Vater? Oder einen Schauspieler?«
»Ist denn das so schlimm?« fragte Miles hitzig. »Gott weiß, ich habe im Film schon ein Dutzend Anwälte gespielt. Schließlich bin ich dadurch ja auf mein Jurastudium gekommen. Ich schaffe es, Sam, ich weiß, daß ich es schaffe!«
»Hör mal, wofür hältst du das alles, für eine Filmvorstellung? Die Sache ist ernst, Miles!«
Miles stand auf. »Morgen rufe ich Charles Macklemore an und lasse mir von ihm einen guten Strafverteidiger empfehlen. Dann sehen wir weiter.«
Er ließ die Schuhe unter der Couch stehen und humpelte auf Strümpfen zur Tür. Es war spät, und er war müde – doch er ging in großer Pose die Treppe hinauf, würdevoll wie ein Star.
Macklemore zeigte sich nicht gerade erbaut, von Miles am nächsten Morgen um acht Uhr aus dem Schlaf geklingelt zu werden, doch er wurde sofort zugänglicher, als er den Grund für den Anruf erfuhr. Das
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