Coole Geschichten für clevere Leser
er ihm glaubte, er sagte nur: »Wenn ich es wirklich schaffe, Sid, wenn – mehr sollst du mir gar nicht beantworten. Wenn es klappt – ist das fünf Dollar pro Karte wert? Bekäme man den Saal voll?«
Sid kicherte schrill. »Und was ist, wenn der Geist nicht kommt, Raymond? Dann gerät die Menge in Wut, zerschmettert die Einrichtung und bringt dich um! Was ist dann?«
»Ich gebe den Leuten eine Garantie!« sagte Raymond triumphierend. »Das Gespenst kommt – oder jeder kriegt sein Geld zurück. Was haben die Leute zu verlieren?«
»Die Leute – nichts. Aber du! Die Miete, die Platzanweiser, die Bühnenassistenten, das Orchester. Die Mindestlöhne der Gewerkschaft. Raymond, du solltest das Geld lieber für einen guten Psychiater ausgeben!«
Aber Raymond war in seinem Glauben nicht wankend zu machen. »Mama würde mich nicht enttäuschen«, sagte er. »Mama hat mir immer wieder versprochen, sich meiner anzunehmen. Sidney, diesmal ist Gott auf meiner Seite. Kannst du mir fünftausend leihen?«
»Frag doch Gott«, antwortete Sid. Doch am gleichen Abend schrieb er den Scheck aus; immerhin war er Raymonds Onkel.
Fünftausend reichten natürlich nicht, und so verkaufte Raymond einen Lincoln-Continental, der ihm eigentlich gar nicht gehörte, an seinen besten Freund Earl Steckel. Außerdem schrieb er seiner Ex-Frau, schilderte ihr, daß er eine kaputte Niere habe, und ging sie um Geld an. Als sie seinen Schuldschein über zweitausendfünfhundert Dollar in der Hand hatte, schickte sie ihm den Betrag. Noch fehlten etwa achttausend Dollar am erforderlichen Minimum, und er tat etwas, das er eigentlich nie tun wollte: er suchte den »Freund« auf, einen stiernackigen Gauner, der absolut keine Verbindung zur Chase-Manhattan-Bank hatte, dessen Kreditgeschäft aber dennoch florierte. (Die Kunden des »Freundes« gingen ein enormes Risiko ein; sie zahlten für jeden Ratenrückstand mit ihrem Wohlbefinden.)
Endlich hatte er das Geld zusammen, legte Datum und Ort fest und schickte seiner Mutter ein Stoßgebet.
»Mama«, sagte er, neben dem Hotelbett auf den Knien hockend. »Du bist für den 10. gebucht. Den 10., Mama! Laß mich nicht hängen! Der Kartenvorverkauf beginnt diese Woche.«
Die Werbung setzte ein, und die ganze Stadt lachte:
Raymond Schiff präsentiert:
Der Geist meiner Mutter
zum erstenmal live auf der Bühne
eine echte Manifestation aus der
Geisterwelt
Kein Film – keine Aufzeichnung
Der Geist von Mrs. Hanna Schiff
geboren 1896 – gestorben 1965
ERSCHEINEN GARANTIERT -
sonst Geld zurück
WINTER GARDEN – EINMALIGER AUFTRITT
10 . OKTOBER, 21 UHR
Zuerst lachten die Menschen. Dann kauften die ersten mit beschämten Gesichtern ein paar Tickets. Dann bildete sich eine Schlange – und begann zu wachsen. Sie verlängerte sich und wand sich schließlich am Häuserblock entlang und um die Ecke. Die Kartenagenturen witterten Profite. Die Nachfrage begann das Angebot zu übersteigen. Plötzlich war eine Panik im Gange. Zwei Wochen vor der Vorstellung war der Saal ausverkauft, und Raymond Schiff sah eine Bilanz vor Augen, die in schwindelnden Höhen abschloß. Kredite, Kosten – nach dem Oktober war er ein wohlhabender Mann.
Es gab einen letzten Ausgabenposten: er mußte sich einen Abendanzug leihen, war doch Raymond Schiff entschlossen, den Star des Abends persönlich vorzustellen. Er bezog die beste (das heißt, die am wenigsten heruntergekommene) Garderobe des Theaters und bereitete sich sorgfältig auf den Auftritt vor. In dem schmierigen Spiegel zeigte sein Gesicht frischen Optimismus und sogar schon ein paar neu sprießende Haare.
»Mama, Mama«, flüsterte er zur Decke empor. »Du kümmerst dich wirklich um mich, wie du es versprochen hast.«
Er kannte nicht den geringsten Zweifel. Er war an diesem Abend der einzige – hinter der Bühne wie auch im Zuschauerraum –, der fest glaubte, daß die Show starten würde.
Zwanzig Minuten vor neun spielte die Band eine verjazzte Version von »Im Geiste bin ich bei dir«. Raymond summte die Melodie mit, als Sid Salmon in den Raum hastete. »Raymond, Raymond – was für ein Wahnsinn! Ich hätte nie gedacht, daß du wirklich … Hast du die Leute da draußen gesehen – Raymond, was hast du getan?«
»Bleib ruhig!« sagte Raymond lachend. »Mama kommt, Sidney, ganz bestimmt!«
Raymond verließ kurz vor neun Uhr die Garderobe. Er trat auf die Bühne hinaus, vor die Kulisse, die ein sternenfunkelndes Universum zeigte. Er schaute kurz durch den Vorhang
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