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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Gespräch dauerte eine halbe Stunde. Schließlich notierte sich Miles den Namen eines Anwalts: Edwin C. Rutherford, 74 Wall Street . Macklemore zeigte sich von Miles’ Plan kaum mehr angetan als Sam, ließ sich aber auf keine Diskussion ein. Offenbar wollte er die Auseinandersetzung Rutherford überlassen.
    Rutherford war ein schlaksiger Mann, der sich auf seinen Schreibtisch hockte, als bestiege er ein Pferd. Während Miles den Fall vortrug, rutschte er unruhig hin und her, murmelte Unverständliches vor sich hin und kratzte sich Gesicht und Brust. Er schlürfte lautstark Kaffee aus einem Pappbecher, und beim Notizenmachen brachen seine ungeschickten dicken Finger zweimal den Bleistift ab. Doch schließlich überraschte er Miles mit einer knappen und zutreffenden Analyse von Teds Situation und rechtlichen Möglichkeiten und mit einer positiven Einstellung zu Miles’ Idee vom Verteidigerteam.
    »Warum nicht?« fragte er barsch. »Sie sind zugelassener Anwalt, auch wenn Sie Fälle dieser Art bisher nicht bearbeitet haben. Natürlich könnte Ihre persönliche Verwicklung ein Hemmschuh sein. Sie kennen ja den alten Spruch: ›Wer sich selbst berät, hat einen Dummkopf zum Anwalt.««
    Miles lächelte. »Da habe ich noch ein besseres Zitat, Mr. Rutherford. ›Menschen verstehen oft nur jene Gesetze, die sie fühlen.‹ Lord Halifax.«
    Rutherford schlug nach einer imaginären Fliege auf seiner Schreibunterlage.
    »Und das trauen Sie sich zu, Mr. Crawford? Die Gefühle der Geschworenen anzusprechen? Ihre Emotionen zu wecken?«
    »Ich bin der Vater des Jungen.«
    »Aber das ist es nicht allein, oder? Ich meine, Charlie Macklemore hat mir einmal erzählt, Sie seien eine Art Schauspieler gewesen. Beim Film.«
    »Das ist lange her, Mr. Rutherford, in den zwanziger Jahren. Meinen letzten Film habe ich 1933 gemacht. 1940 wurde ich von der Anwaltskammer zugelassen und habe seither in diesem Beruf gearbeitet.«
    Rutherford musterte ihn mit seltsamem Blick.
    »Na schön!« sagte Miles. »Vielleicht will ich wirklich darauf hinaus. Ich war Schauspieler. Ich kann die Menschen dazu bringen, etwas zu empfinden. Das war immerhin mein Job.«
    »Ich verstehe.«
    »Ich will Ihnen keineswegs vorschreiben, wie der Fall abgewickelt werden muß«, sagte Miles. »Ich will nur meine Rolle dabei spielen.« Die Worte waren vielleicht nicht ganz glücklich gewählt; Rutherford runzelte die Stirn und kratzte sich sichtlich gereizt an der Schulter, aber Miles berichtigte sich nicht.
    »Na gut«, entschied der Anwalt. »Wollen mal sehen, wie es läuft. Das größte Fragezeichen ist für mich Ihr Junge. Wie heißt er doch gleich?«
    »Ted.«
    »Ted«, sagte Rutherford. »Er muß auf jeden Fall dazu Stellung nehmen. Woher wissen Sie, daß er mit Ihrem Vorgehen einverstanden ist? Immerhin geht es um eine Mordanklage. Er ist alt genug, um auf den elektrischen Stuhl zu kommen. Zumindest können Sie ihn fragen, ob er damit einverstanden ist.«
    Unsicher geworden, rutschte Miles auf seinem Stuhl hin und her.
    »Ja«, sagte er. »Sie haben natürlich recht. Ich muß ihn fragen.«
    Er besuchte Ted am nächsten Morgen. Nachdem er vor der Grand Jury formell angeklagt worden war, hatte man den Jungen in das Bezirksgefängnis an der Fleet Avenue überführt und ihn bereits in die Routine eingegliedert. Als er das Besucherzimmer betrat, paßte ihm die graue Sträflingskleidung zu gut, und sein Verhalten hatte etwas Unterwürfiges.
    »Wie geht es dir?« fragte Miles. »Wie wirst du hier behandelt?«
    Ted zuckte die Achseln. Der Besuch schien ihn bereits zu langweilen.
    »Es wird alles gut«, sagte Miles. »Ich habe mit Rutherford gesprochen, dem Anwalt, der dich gestern besucht hat. Leider bekommen wir dich auf Kaution nicht raus, aber …«
    »Wann ist die Vorverhandlung, von der er mir erzählt hat?«
    »Irgendwann in der nächsten Woche. Dabei werden wir auf Totschlag plädieren. Du begreifst den Unterschied, ja?«
    Ted betrachtete seine Hände.
    »Weißt du, die Kernfrage ist der Vorbedacht«, fuhr Miles fort und senkte die Stimme. »Hier liegt der große Unterschied zwischen Mord und Totschlag. Vorbedacht und Provokation. Weißt du überhaupt, wovon ich rede? Einen zweiseitigen Kampf, solange er nicht zum Zwecke des Tötens ausgelöst worden ist, nennt man eine provozierte Handlung. Hat Rutherford dir das nicht gesagt?«
    »Er hat zwei Stunden lang geredet«, sagte Ted gleichgültig. »Ich konnte ihm nicht recht folgen.«
    Miles beugte sich vor. »Hör zu,

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