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Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
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zu
begreifen und zu beschreiben. Alle frühen Kulturen erlagen der Faszination der
menschlichen Denkkraft und konnten sich nur einen großen allmächtigen Geist als
den Ursprung aller Dinge vorstellen. Sahen die Wilden diesen Geist noch im
Gegenständlichen, also innerhalb der Grenzen ihres Vermögens zur
Begriffsbildung – in Pflanzen, Tieren, Feuer, Wind oder Wasser – so wuchsen die
Götter mit der Selbsterkenntnis des Bewußtseins immer mehr in esoterische
Sphären hinein, wurde das unbegreifliche Phänomen des Ichs, des Willens und des
Erkennens, in mystischer Übersteigerung zur schöpferischen Macht in der
Vorstellung der Menschen. Was alles konnte allein die Kraft eines Wortes
bewirken! Der Befehl eines Fürsten wies Schicksalen den Weg, eine Lüge war oft
stärker als die Wahrheit, ein Wort konnte Glück oder Unglück verheißen… Du
kennst diese Ehrfurcht vor dem Geist, Hyazinth Blume – immer, wenn du Schriften
alter Denker in den Händen hieltest, schauderte dir bei dem Gedanken daran, daß
diese Worte vor hunderten und tausenden von Jahren gesprochen und
niedergeschrieben wurden, und oft war dir, als stünde der alte Sumerer vor dir,
oder der längst zu Staub gewordene Assyrer, der Ägypter, der Grieche und der
Römer, der Judäer und Byzantiner… du hast wirklich mit ihnen gesprochen, oder
täusche ich mich so sehr in dir?”
    Hyazinth hatte benommen genickt.
Genau so war es gewesen, so, wie Beryll es beschrieb: Nicht die vergilbten
Lettern hatten Hyazinths Ehrfurcht geweckt, sondern die lebendige Kraft
menschlichen Geistes, die aus den Irrtümern ebenso sprach wie aus den
Weisheiten.
    “Siehst du, und dieser
geheimnisvollen Wirkung waren die Menschen früherer Zeiten hilflos ausgesetzt.
Ihnen fehlten die Erkenntnismittel, um das Bewußtsein als Aspekt des Seins zu
begreifen – sie dafür zu verurteilen wäre nicht nur überheblich, sondern
schlicht töricht und dumm. Vielmehr sollten wir die Kraft ihrer schöpferischen
Phantasie bewundern, aus der sie sich ihre Bilder von der Wirklichkeit
schufen!”
    Das war der Augenblick gewesen,
wo Hyazinth seinen Groll gegen Beryll vergaß und Interesse fand an den
Erklärungen des Obersten Projektanten. Beryll sprach mit einer Leidenschaft,
die er in dem dürren, eigentlich farblosen Mann nicht erwartet hatte
    “Wenn die Menschen schon vom
unbegreifbaren Phänomenen der Seele überwältigt waren – wie erst mußten
sie verzweifeln bei dem vergeblichen Versuch, das Wunder des Traumes zu
verstehen: Götterbotschaft, Seelenwanderung, Himmel und Hölle, Perspektion und
Zauberei – das waren die weniger durchdachten Konzeptionen. Und wenn Platon
sagte: Die Menschen leben nur im Traum, allein der Philosoph ist bestrebt zu
wachen – so ist darin gewiß weniger eine idealistische Haltung als die Klage
über den verschwenderischen Umgang mit der Seele zu sehen. Anders als in den
alten indischen Veden, dort wird die wirkliche Welt als ein Gewebe der
Traumgöttin Maja bezeichnet, und bei Shakespeare lesen wir: Wir sind solches
Zeug wie das, woraus die Träume gemacht sind, und unser kurzes Leben ist von
einem Schlaf umschlossen…”
    “Ist einer Welt Besitz für dich
zeronnen/ sei nicht leid darüber, es ist nichts/ Und hast du einer Welt Besitz
gewonnen, sei nicht erfreut darüber, es ist nichts/ Vorüber gehen die Schmerzen
und die Wonnen/ Geh’ an der Welt vorüber, es ist nichts.” Hyazinth hatte das
alte persische Gedicht leise vor sich hin gesprochen. Düster und unheimlich
waren die Worte ihm immer erschienen, auf einmal aber hatte er einen anderen
Klang im Ohr, etwas wie Hoffnung und Zuversicht…
    “Stimmt. Anwaris Soheiti – das
trifft den Nagel auf den Kopf”, antwortete Beryll erfreut. “Viele Dichter und
Philosophen betrachten die materielle Welt als ein Trugbild, als eine Schöpfung
ihres eigenen Geistes – ähnlich einem wirren Traum. Aber erst Schopenhauer
formulierte ein in sich geschlossenes Regelwerk zur Erklärung einer solchen
Welt. Was den Jahrhunderten nach ihm als purer Unfug galt, ist heute Grundlage
der Lehre von der Großen Umkehr: Die Erschaffung des Seins aus dem Bewußtsein…”
    Allmählich dämmerte Hyazinth, daß
eine Schopenhauerwelt etwas grundsätzlich anderes sein mußte als die
intellektronischen Simulationen des Geo-Spiels oder der Selbstspielprogramme.
    “Also ganz im Sinne der alten
Scholastik: Schöpfung aus dem Nichts, durch Erkenntnis motivierter Willensakt
eines außerweltlichen Wesens?” fragte

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