Copyworld: Roman (German Edition)
ausleuchten,
vergangene im Dunkel versinken lassen. Je älter das Individuum wird, desto mehr
muß es aufgrund seiner knapp bemessenen Gehirnkapazität vergessen. Ist dieser
Informationsverlust nun ein stetiger Prozeß derart, daß von Geburt an
sukzessive vergessen wird, die Erinnerungen also – wenn die Bandschleife einen
Durchlauf vollendet hat – beginnend beim Ursprung gelöscht werden? Oder erfolgt
das Vergessen sporadisch und punktuell, unsystematisch. Was geschieht im
Gedächtnis nach dreihundert, fünfhundert oder tausend Jahren Lebensspanne? Im
ersten Falle müßten viele Persönlichkeiten in ein und demselben Bewußtsein
einander ablösen, indem sie jeweils stufenlos ineinander übergehen – letztlich
aber keine Beziehung mehr zueinander haben, sobald die Gedächtniskapazität
überschritten ist. Im zweiten Falle würde die Persönlichkeit nach Überschreiten
ihres Höhepunktes rasch und total zerstört werden…
Unsterbliche Individuen sind also
denkbar – unsterbliche Persönlichkeiten keinesfalls… Muß man nicht sogar schon
die verschiedenen Lebensalter eines sterblichen Menschen als die Abfolge
verschiedener Persönlichkeiten auffassen: Kindheit, Jugend, Reife, Alter – sind
das nicht weitgehend voneinander unabhängige Phasen, nur durch kurze
Übergangsstrecken miteinander verbunden? Wie stark ist denn die Beziehung des
Greises zu seiner eigenen Kindheit? Welchen Sinn haben überhaupt Begriffe wie
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenn die Gegenwart doch nichts weiter ist
als der Nullpunkt zwischen Vergangenem und Zukünftigem, streng definiert durch
ganz subjektives Zeiterleben? Läßt sich etwa für die Zeit eines traumlosen Schlafes
eine Gegenwart definieren, oder eine Vergangenheit – oder eine Zukunft?”
“Immer wieder erstaunt es mich
aufs Neue, wie klug formulierte Fragen bereits den Keim der Antwort in sich
tragen”, begann Beryll. “Dein Vergleich ist gut: Eine unendliche Lebenspanne
müßte vom Bewußtsein – das aufgrund seiner endlichen Qualität gezwungen ist,
Informationen auszulesen oder zu löschen – wie vom Lichtkegel eines
Scheinwerfers überstrichen werden. Daß bei älteren Menschen zuerst das
Kurzzeitgedächtnis versagt, ist ein physiologischer Verschleißprozeß und hat
mit dem Prinzip nichts zu tun, denn wir gehen davon aus, daß es in der
intellektronischen Existenz keinen irreparablen Verschleiß gibt. Es wäre in der
Tat so, daß die fünfte oder sechste – möglicherweise auch erst die zehnte –
Persönlichkeit dieses einen Bewußtseins irgendwann die Erinnerung an die erste
verlieren würde… etwa so, wie wir uns nicht an die ersten dutzend Lebensmonate
erinnern können, obgleich das einen ganz anderen Grund hat. Aber wäre das ein
Mangel? Schopenhauer sagt es deutlich: Der Wasserfall ist das Wesen der
Erscheinung, nicht die Unmenge der stürzenden Tropfen. Also dürfen wir als das
Wesen eines Menschen sein Bewußtsein auffassen, das unaufhörlich zahllose
Persönlichkeiten generiert. Bereits in diesem Sinne bedeutete Unsterblichkeit
eine völlig neue Existenzqualität der Vernunft: Jedes Individuum wird zu seiner
eigenen Art innerhalb der Dimension Zeit…”
“Aber das muß doch zur Stagnation
führen!” warf Hyazinth rasch ein. “Wenn das sexuelle Prinzip mit seiner
unbändigen Kraft durch eine Pseudovermehrung abgelöst wird, die eher dem
archaischen Prinzip der Vermehrung durch Teilung gleicht – dann muß die
Evolution an Tempo verlieren, wird sie eines ihrer effektivsten Werkzeuge
beraubt!”
Beryll schaute irritiert drein.
“Was hat das mit Sexualität zu tun? Die geschlechtliche Vermehrung als
Kombinatorik der Evolution ist ein stochastisches Prinzip, ein Würfelspiel mit
einem millionenflächigen Trudelding, das auf Millionen Würfe einen Volltreffer
erwarten läßt – was soll daran so progressiv sein, gemessen an der rationalen
Kombinatorik menschlicher Vernunft?”
“Ich meinte… könnte der Verzicht
auf biologische Determinismen nicht zur Degeneration führen? Schließlich hatte
der erste schöpferische Eingriff menschlichen Verstandes in genetische
Mechanismen eine weltweite Katastrophe zur Folge…”
“Dies war eins der Hauptargumente
der Besinnler”, entgegnete Beryll trocken, “mit dem sie jegliche Veränderung
der Lebensweise ablehnten -”
“Meines Wissen lehnten sie nicht
kategorisch alle Veränderungen ab”, unterbrach ihn Hyazinth schnell, um den
Verdacht zu entkräften, er könnte besinnlerischen Ansichten
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