Copyworld: Roman (German Edition)
Schwingen.
Wieder hat er das Gesicht des
Tieres dicht vor sich. Wütend bleckt die
Bestie die Zähne, aber aus den funkelnden Augen leuchtet das Entsetzen, mit dem
sie ihre Niederlage begreift.
Die Knochen des Tieres splittern
mit einem gräßlichen Geräusch, und ebenso gräßlich erscheint Derek das Stöhnen,
mit dem sich der Attanaiholl in den zerstampften Schnee sinken läßt.
Behende springt Derek zur Seite,
denn noch ist der Feind nicht besiegt. Die scharfen Zähne sind eine ebenso
gefährliche Waffe wie die mächtigen Schwingen. Erst als er die Eldridssense
wieder in den Händen hält, hämmert sein Herz nicht mehr so ungestüm.
Entschlossen stapft Derek auf den Holl zu und hebt die Leibsense zum Stoß.
Das Tier weicht nicht zurück. Es
hockt da, die gebrochenen Flügel hängen ihm seltsam verdreht von den Schultern,
und es legt stöhnend den Kopf in den Nacken. Der flammende Blick ist auf die
Mondsichel geheftet, dann schließt es die Lider und wartet auf den Tod.
Derek beißt die Zähne zusammen
und holt aus. Doch als er zustoßen will, weicht alle Kraft aus seinen Armen.
Nur eine armseliges Häuflein Leben hockt vor ihm im Schnee, kein Feind, mit dem
man auf Sein oder Nichtsein die Kräfte messen muß. Wie kann er das
Geschöpf töten, das ihm demütig die
Stirn entgegenhebt und mit geschlossenen Augen das Ende erwartet?
Ein feines Zirpen schwingt
zitternd über die Lichtung, bricht sich an den gläsern aufragenden Eisfichten.
Es klingt unendlich traurig, und Derek überlegt verstört, wo und wann er diesen
Ton schon einmal gehört hat. Erst als er das Vibrieren am Hals der Holls sieht,
begreift er, daß das Tier Abschied von seinem ungeborenen Jungen nimmt.
Als Curdin noch Herrscher von
Seemark war, hatten die Bauern aus Andels Dorf einmal das Unglück, einen
halbwüchsigen Holl zu erlegen, der sich zu nahe an die Holz schlagenden Männer
gewagt hatte und von einem umstürzenden Baum zu Boden gerissen wurde. Im
Triumphzug zogen sie zum Palast, und hoch über den Wolken kreiste der alte Holl
und zirpte lockend, als wüßte er nicht, daß sein Junges längst erschlagen war.
In der darauffolgenden Nacht aber mordete er achtzehn Dorfbewohner,
ausschließlich Männer...
Er weiß, weshalb ich ihn töten
muß, geht es Derek durch den Kopf, und er kämpft erneut ein Gefühl nieder, das
aus Scham und Schuldbewußtsein besteht. Er weiß, daß ich das schwarze Ei holen
werde, daß ich nicht nur ihn, sondern auch sein Ungeborenes töten werde.
Der Holl singt girrend ein Lied
aus Trauer und Zärtlichkeit, Dereks erhobener Arm erstarrt wie zu Eis, denn
nun, mit geschlossenenen Augen, sieht das Gesicht des Untiers wirklich aus wie
das eines wehrlosen Kindes, und der tiefe, schon verkrustete Schnitt auf der
Wange verstärkt den Anschein der Hilflosigkeit.
“Nimm du dich seiner an, Urmutter
Ealthea...”, murmelt Derek und blickt zu den Sternen auf. “Ich mag ihn nicht
töten, auch wenn er ein dutzendfacher Mörder ist. Du hast ihn so geschaffen,
also bestimme du sein Schicksal!”
Er läßt den Arm mit der
Elridssense sinken und wendet sich zum Gehen. Doch als er die Springbüffelhaut
aufnimmt und sich um die Schultern legt, hört er ein Geräusch. Derek schnellt
mit emporgerissener Leibsense herum. Schwerfällig wankt der Bergholl auf ihn
zu, in den weitaufgerissenen Augen ist ein Sprühen wie von knisternden Funken.
Nicht einmal der Anblick der wieder auf ihn gerichteten Klinge läßt ihn
verharren. Mühsam schleppt er sich voran, hockt sich drei Schritte vor Derek
wieder in den Schnee und legt den Kopf in den Nacken...
“Nein”, flüstert Derek, “nein,
ich kann es nicht. Warum willst du unbedingt sterben ... nimm dein Leben, nimm
es und geh deiner Wege...” dann stürzt er hastig davon, läuft durch den
aufwirbelnden Schnee als fliehe er vor dem Holl.
Am Ende der Lichtung verhält er
schweratmend, lehnt sich gegen den Stamm einer Eisfichte und hebt den Blick zum
Himmel.
“Warum kann ich es nicht
vollenden, Vater?” fragt er die blitzenden Sterne, “Es ist doch kein Unrecht.
Die Bestie wird weitermorden, wenn die Verletzungen geheilt sind. Liegt es
daran, daß es nur ein Tier ist, dem Ealthea nicht die Freiheit der Venunft gab
wie uns Menschen? Wollte ich dem Holl die Stirn durchstoßen, dann müßte ich
doch auch die Vögel töten, weil sie durch die Luft fliegen, und die Fische, nur
weil sie im Wasser schwimmen. Wehren kann ich dem Treiben des Holls, aber darf
ich ihn strafen für ein
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