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Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
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damals die Lehre
vom Martyrium.
    Die neuen Erziehungsanstalten
nannte man Lebensquellen. Es handelte sich dabei um ganze Komplexe von Einrichtungen
sozialer und kultureller Art – jeder Lebensquell war ein kleiner Staat für
sich, in dem die Kinder früh daran gewöhnt wurden, den Sinn ihrer Existenz in
der ihnen übertragenen Aufgaben zu sehen.
    Hyazinth war Traumsammler. Jeden
Morgen mußten ihm seine sechs Geschwister, mit denen zusammen er die Kindschaft
Beta achtundvierzig bildete, erzählen, was sie geträumt hatten. Das war eine
schöne Aufgabe, er sehnte die Stunde des Weckens so sehr herbei, daß er oft
aufwachte, wenn die Sterne gerade erst im aufsteigenden Morgendämmern
verblaßten. Was waren das für Geschichten, die er zu hören bekam - viel
interessanter als der reglementierte Alltag in der Lebensquelle Blume! Da hatte
Tagetes von einem gräßlichen Ungeheuer geträumt, das ihn verschlingen wollte –
sein Kindschafter Lapis aber lächelte, als er ihm Bericht erstattete, und
sagte, Tagetes könne wohl die Gesundheitskontrolle nicht sonderlich leiden.
Erst Jahre später begriff Hyazinth, daß Tagetes von einer Fahrt durch den
dunklen Tunnel der Kontrollautomatik geträumt haben mußte. Dabei rutschte man,
auf dem Bauch liegend, in zischende, knisternde, klickende und fauchende Nacht,
alle möglichen Sensoren tasteten über den nackten Körper, kitzelten hier und
piekten dort.
    Er konnte damals noch nicht
wissen, daß die Träume der Kinder mehr Aufschluß über deren psychische
Verfassung gaben als deren Klagen und Wünsche, die jeden Abend vorgebracht
werden durften.
    Zuerst berichtete er treu und
ehrlich, was ihm erzählt wurde. Aber wenn es einmal wenig Sensationelles zu
übermitteln gab, verbesserte er die Qualität des Rapports durch geringfügige
Zusätze, die Produkt seiner Phantasie waren. Unmerklich verschoben sich die
Relationen zu Ungunsten der wirklich erlebten Träume, und irgendwann war es
dann so weit, daß sein Rapport von vorne bis hinten erlogen war.
    Hyazinth war sich dessen kaum
bewußt. Aber die Leitung der Lebensquelle Blume bemerkte den Schwindel bald,
als die Kennwerte aller seiner Kindschaftsmitglieder so durcheinander gerieten,
daß anstelle verständlicher Psychogramme nur noch Unfug herauskam.
    Damals wurde er zu Korund Stein
gerufen.
    Der alte Mann lächelte freundlich
und fragte noch einmal nach den Träumen der letzten Nacht. Hyazinth aber wußte
längst nicht mehr, was er wann zusammengeschwindelt hatte und legte unbekümmert
los, nicht ahnend, daß der Erste Kindschafter vor sich eine Kopie des
Morgenrapports liegen hatte. Korund Stein ließ ihn ausreden, ohne mit der
Wimper zu zucken – dann legte er   los.
Bis dahin hatte Hyazinth nicht gewußt, welch furchtbares Donnergetöse eine
menschliche Stimme zu erzeugen vermag, und es war vielmehr Bewunderung als
Furcht, was ihn ehrfürchtig erstarren ließ. Bestraft wurde er jedoch nicht, und
was ihn noch mehr verwirrte, war die beinahe zärtliche Geste, mit der ihm Korund
Stein zum Abschied über die Haare strich.
    Fortan kam keine Lüge mehr über
seine Lippen. Zwar hatte er kein Wort des infernalischen Getöses verstanden,
aber geblieben war eine Ahnung von etwas ungeheuer Mächtigem, dem man sich
bedingungslos zu beugen hatte.
    Später erfuhr er, welch ein Glück
er gehabt hatte: Wahrscheinlich ist er der einzige Sünder in der   Geschichte der Lebensquelle Blume, der ohne
Bestrafung aus dem Büro des Ersten Kindschafters entlassen wurde.

 
    Hyazinth blickt zum Kegelturm der
Hohen Exarchie hinüber. Morgen also wird er das zweite Mal in seinem Leben vor
Korund Stein stehen. Ob ihm der Erste   Exarch   noch immer wohlgesonnen
ist?
    Die Zentralstadt schillert und
funkelt in allen Farben des Regenbogens. Überall blinken die Leuchtbuchstaben der
Lehrsätze über den Bauwerken, alles aber überstrahlt die flammende Schrift auf
der Spitze des Kegelturms: Der Weise ist frei von Zweifeln.
    Als ob es nur an mich gerichtet
ist, denkt Hyazinth unbehaglich. Doch gerade will er sich reumütig Rechenschaft
ablegen über die aufsässigen Gedanken, die ihn am Tag heimgesucht haben, da
erlöschen auf einen Schlag alle Lichter der Stadt.
    Die Stunde von Res Cogitans.
    Hyazinth zieht Federchen hinab
und legt sie sich ins Genick. Dann springt er in die dunkle Einstiegsöffnung
der Labyrinthbahn und reißt, kaum daß sich die Hülle des Kabinentropfens um ihn
geschlossen hat, die Filterstopfen aus der Nase. Doch nichts geschieht,

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