Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Copyworld: Roman (German Edition)

Copyworld: Roman (German Edition)

Titel: Copyworld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Szameit
Vom Netzwerk:
dinge
urmutter…
    Hyazinth blickte bestürzt auf.
Das konnte nur eine verbotene Schrift sein!
    Aber eine geheimnisvolle Macht
zwang ihn, wieder auf den Text zu schauen.
    beide gemeinsam   entsprungen dem   einen
    sind sie nur anders im namen
    gemeinsam gehören sie dem tiefen
    dort, wo am tiefsten das tiefe
    liegt aller geheimnisse pforte

 
    – las er weiter unten, und ein
eigenartiges Gefühl beschlich ihn.
    Die Sprache dieser Schrift
durchdrang ihn wie Sphärenklang. Unwillkürlich ließ er sich auf die Knie
nieder, breitete die Holztäfelchen aus und begann zu lesen.
    Mit jeder Zeile wurde ihm klar,
daß er durch puren Zufall auf etwas ganz besonderes gestoßen war. Offenbar war
jener Laudse, der Verfasser des Textes, ein Zeitgenosse des Meisters gewesen –
aber seine Sprüche klangen ganz anders, wenn sie denn auch denen des Meisters
Kong Qiu ein wenig zu ähneln schienen.
    Strenger in der Form waren sie,
knapper, und doch irgendwie umfassender. Oft widersprachen sie den Weisheiten
der Meisterworte in krassester Weise – und gerade das fesselte Hyazinths
Aufmerksamkeit. War er anfangs noch bestrebt, den unbekannten Denker im Geiste
zu widerlegen, geriet er immer mehr in den Bann seiner klaren Überlegungen, je
weiter er im Text vordrang.
    Schließlich gelangte er an eine
Stelle, deren Worte ihn sehr erregten:

 
    als man aber mit den namen begann
zu trennen die dinge
    wurden selbstherrlich die namen.

 
    Hyazinth mußte sofort an
Weltenstein denken, ohne genau sagen zu können, warum. Eigentlich resultierte seine
spontane Erregung auch aus einem gänzlich anderen Gedanken. Nicht selten hat er
sich drüber geärgert, daß Worte und Rituale für viele Märtyrer wichtiger sind
als deren Inhalt, und er hat sich verzweifelt nach den Ursachen gefragt. Und
genau das sagt dieser Laudse: Als man begann, die Worte für die Dinge zu
nehmen, die Dinge damit aus ihrem Zusammenhang löste, da verselbständigten sich
die Worte und wurden zu Werkzeugen des Mißbrauchs.
    Die fremden Gedanken wurden
Hyazinth immer vertrauter; auch wenn er nicht alles begriff, so hinterließen
sie doch einen Nachhall in seinem Denken. Vieles erfüllte ihn mit Furcht, und
zwar solcherart, wie die Gewißheit vorn drohendem Unheil ängstigt. Ohne einen
Grund für seine Überzeugung nennen zu können, wußte Hyazinth, daß Laudse die
reine Wahrheit sprach. Umso mehr beunruhigte ihn eine Strophe, in der es hieß:

 
    dann ging die güte verloren
    ihr folgte die rechtschaffenheit
    dann ging die rechtschaffenheit
verloren
    und ihr folgten die riten
    die riten verdarben treue und vertrauen
    und die wirrnis erhob ihr haupt.

 
    Nachdenklich hob er den Kopf und
blickte nach draußen, wo zarte Wolkenschleier gemächlich über den Gebäuden der
Zentralstadt dahinzogen. Die Panoramascheibe war schon fast dunkelbraun, so
grell brannte die Sonne auf Villafleur, und die Wohntürme, Trägerkerne und
öffentlichen Bauwerke funkelten wie Silber. Überall waren die Reflektorpigmente
in den Mauern voll aktiviert, alles spiegelte und glänzte, stemmte sich gegen
die tödliche Ultraviolettstrahlung der Sonne und die enorme Hitze, die gegen
Mittag bis zu hundert Grad erreichen kann.
    Welch eine mächtige Stadt!   dachte Hyazinth ehrfürchtig. Welch ein
Bollwerk der Vernunft, von solch verletzlichen Wesen geschaffen wie ich selbst
eins bin. Und doch täuscht der Eindruck von Erhabenheit und Unbezwingbarkeit!
Ist es denn nicht so wie dieser Zeitgenosse des Meisters sagt: An die Stelle
von Güte und Rechtschaffenheit sind die Riten getreten. Nicht etwa, daß die
Menschen schlecht und verderbt geworden sind, aber sie befolgen nicht die
Befehle ihres Herzens, sondern handeln, wie unzählige Riten und Vorschriften es
verlangen. Wie oft schon geriet Hyazinth in Gewissenskonflikte, wenn seinem
Bedürfnis nach Treue und Vertrauen die Riten entgegenstanden.
    In seinem Kopf begann es gefährlich
zu summen und zu knistern. Da waren sie, die Zweifel und die Widersprüche!
Immer kommen sie von selbst, scheinbar aus dem Nichts, ohne daß man sich ihrer
erwehren kann.
    Hyazinth breitete die Arme aus
und legte den Kopf in den Nacken. Immer wieder flüsterte er das zweite
Generalgebot, viermal, fünfmal, ein zehntes Mal: Du sollst alle Zweifel an der
Lehre aus dir reißen, denn sie verwirren das Denken!

 
    Federchen zerrt übermütig an dem
Platinkettchen und quietscht vergnügt auf, als Hyazinth – in Gedanken immer
noch im Zimmer des Masterteachers – einige Male

Weitere Kostenlose Bücher