Copyworld: Roman (German Edition)
Gewissen dröhnte - das Blut auf der Leibsensenklinge
verursachte ihm bisher keinerlei Übelkeit...
Ein Vers aus Ealtheas Hohelied
kommt ihm in den Sinn, und Derek summt ihn vor sich hin:
Ohne Sterben ist kein Leben,
was wär der Tag, gäbs keine
Nacht,
und selbst Verharren gebiert
Streben,
Fügsamkeit kreißt Kraft und Macht
–
Ende ist Anfang bei des Pendels
Schlag,
und Sein wird aus des Samen Tod,
wie uns die Nacht führt in den
Tag,
schließt sich der Kreis im
Urgebot...
Ist es denn nicht so? Das Fleisch
des erlegten Wildes gibt uns die Kraft zum Leben und Kämpfen, denkt Derek, und
mit dem Blut unserer Feinde bezahlen wir unsere Freiheit. Und mit unserem
eigenen.
Immerzu lächelt Aja, wenn er über
seine Gedanken spricht, die aus den fremden, fernen Klängen wuchern, die das
Hohelied der Urmutter tragen. Immer wieder sagt sie dann, das Hohelied sei der
Schlüssel zu allen Geheimnissen des Seins, aber er – Derek – habe noch nicht
einmal die richtige Tür gefunden, hinter der sich die Schatzkammer göttlicher
Weisheit befände. Oft wurde er wütend und verlangte, dann solle sie ihn führen,
aber Aja antwortete auch darauf jedesmal dasselbe: Es gibt genug Wegweiser auf
dieser holprigen Straße, aber sie leiten nur den, der sie zu sehen von ganzem
Herzen begehrt und dessen Füße nicht abweichen auf die mit Teppichen
ausgelegten Pfade in den Irrtum – die Wahrheit ist für diejenigen, die sie um
ihrer selbst willen erstreben und nur, um sie mit allen Menschen teilen zu
können.
Erneut schüttelt sich Derek.
Diesmal ist es aber nicht Unwillen oder gar Ekel wie beim Gedanken an das in
seinen Stiefel tropfende Blut. Er will nur die Erinnerungen vertreiben, die
beginnen, sich wie in einem wilden Strudel zu drehen. Weit entfernt ist er noch
von dieser Tür, dessen ist er sich gewiß, aber nur mit dem Verstand kann man
sie nicht finden, hat Aja ihm eingeschärft, es braucht auch Gefühl und vor
allem Taten. Nur im Bund mit dem Handeln vermag der menschliche Geist bis in
die Höhen zu fliegen, die der Herr der Zeit in seinem Eigensinn zu funkelnder
Unerreichbarkeit versteinern läßt...
Gadars erregtes Schnauben bringt
Derek endgültig in die kalte Wirklichkeit des Wintertages zurück.
Eisblau glitzern die Türme und
Zinnen des Palastes in der Ferne. Niemand kann sagen, seit wie vielen
Jahrhunderten die uralten Mauern des Bauwerks mit dieser meterdicken, selbst im
kurzen Sommer nicht abtauenden Schicht gefrorenen Wassers bedeckt ist, und auch
der Sage will niemand recht Glauben schenken, die von einem gewaltigen
Wintersturm berichtet, der die Wogen der See bis weit über die Fjorde hinweg
trieb, sie gegen den Palast peitschte, wo sie sogleich unter dem eisigen Hauch
des Frostes zu einem blinkenden Panzer gefroren. Es soll in jener Nacht
geschehen sein, als der Herr der Zeit Urmutter Ealthea , die ihm ein stolzes
und hartes Menschengeschlecht ausgetragen hatte, für immer zu sich nahm...
Das ewige Eis hat die Kanten und
Spitzen der alten Architektur geglättet. Wo früher eckige Türme unbezwingbar
aufragten, recken sich heute, noch uneinnehmbarer, wulstige Säulen empor. Die
hohen Mauern sind unter dem Eis nur noch zu ahnen, als seien sie mit Zuckerguß
bedeckt. Alles schillert und glitzert im Licht der sinkenden Sonne. Derek muß
sein Dreihorn nicht antreiben. Gadar springt durch den aufstiebenden Schnee,
als habe ihm Ealtheas Pendel einen Klaps auf das Hinterteil versetzt. Die
ersten Schneebuchen tauchen buckelig aus der weißen Ebene. Leuchtendes Grün
schimmert in dem schmalen Spalt zwischen der weißen Kappe und dem lockeren
Bodenschnee. Nur in diesem schmalen Streifen wachsen die Winterblätter, dafür
aber sind sie so groß wie Honigfladen und so zäh wie Dreihornleder. Hier wirken
die Schneebuchen noch wie vereinzelt stehende, riesige Pilze, aber je näher
Derek dem Palast kommt, desto dichter rücken die Bäume zusammen.
Ein Schlittengespann fliegt ihnen
entgegen. Gerade will Derek seinem Dreihorn die Fersen in die Weichen drücken,
um Gadar aus der Fahrtrichtung des heranbrausenden Gefährts zu treiben, da
bäumen sich die Zugtiere auf und halten in einer Wolke aufwirbelnder
Schneekristalle. Sein Hofalkalde Gunder und zwei Knechte springen vom Schlitten
und verbeugen sich ehrerbietig.
“Wir sorgten uns um dich,
Großherr, du wirst von Gästen erwartet”, ruft Gunder.
Die Schlittenkoje ist mit weichen
Fellen ausgelegt. Gerade will Derek sich aus dem Sattel fallen lassen,
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