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Coraline

Coraline

Titel: Coraline Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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etwas Festes, Stabiles.
    An der Wand hinter der zerstörten Bühne war etwas. Es war gräulich weiß, doppelt so groß wie Coraline und es klebte wie eine Schnecke an der Wand.
    Coraline holte tief Luft. »Ich habe keine Angst«, redete sie sich ein. »Ich fürchte mich nicht.«
    Zwar glaubte sie sich das selber nicht, aber sie kletterte auf die alte Bühne. Sie zog sich daran hoch und dabei versanken ihre Finger in dem vermoderten Holz.
    Als sie näher an das Ding an der Wand herankam, sah sie, dass es sich um eine Art Sack handelte, ähnlich dem Kokon, in dem Spinnen ihre Eier ablegen. Es zuckte im Lichtstrahl. In dem Sack war etwas, das wie ein Mensch aussah, allerdings ein Mensch mit zwei Köpfen und doppelt so vielen Armen und Beinen, als er eigentlich haben sollte.
    Das Wesen in dem Sack wirkte entsetzlich grob geformt und unfertig, so als hätte man zwei Knete-Männchen angewärmt und ineinandergerollt, zu einem einzigen Ding zermatscht und zusammengedrückt.
    Coraline zögerte. Sie hatte keine Lust, sich diesem Ding zu nähern. Die Fledermaushunde ließen sich einer nach dem anderen von der Decke herabfallen und be gannen, durch den Raum zu kreisen. Sie flogen dicht an sie heran, berührten sie aber nie.
    Vielleicht sind hier ja gar keine Seelen versteckt, dachte sie. Vielleicht kann ich einfach gehen und woanders weitersuchen. Ein letztes Mal schaute sie durch das Loch im Stein. Das verlassene Theater war immer noch grau und düster, aber jetzt war ein brauner Glanz zu sehen, der so üppig und strahlend war wie blank poliertes Kirschbaumholz und innen aus dem Sack kam. Was da leuchtete, wurde von dem Ding im Sack in einer der Hände gehalten.
    Langsam überquerte Coraline die modrige Bühne und gab sich Mühe, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Sie hatte Angst, dass das Ding womöglich die Augen aufmachte, wenn sie es störte, und sie sah und dann . . .
    Aber sie konnte sich nichts Furchterregenderes vorstellen, als von dem Ding angesehen zu werden. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie machte noch einen Schritt vorwärts.
    Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt, aber sie ging dennoch weiter, bis sie bei dem Sack angekommen war. Dann stieß sie ihre Hand in das klebrige, pappige weiße Zeug an der Wand. Es knisterte leise, als sie die Hand hineinschob, und haftete an Haut und Kleidung wie Spinnweben, wie weiße Zuckerwatte. Sie stieß die Hand hinein und langte nach oben, bis sie eine kalte Hand berührte, die, wie sie spüren konnte, um eine Glasmurmel geschlossen war. Die Haut des Wesens fühlte sich glitschig an, als wäre sie mit Gelee überzogen. Coraline zerrte an der Murmel.
    Zuerst geschah gar nichts – das Wesen hatte die Murmel fest im Griff. Doch dann lockerten sich die Finger, einer nach dem anderen, und die Murmel glitt in ihre Hand. Coraline zog den Arm aus dem klebrigen Gewebe, heilfroh darüber, dass das Ding die Augen nicht geöffnet hatte. Sie leuchtete mit der Taschenlampe in die beiden Gesichter und kam zu dem Ergebnis, dass sie einer jüngeren Version von Miss Spink und Miss Forcible ähnelten, allerdings ganz verdreht und zusammengequetscht, wie zwei Wachsklumpen, die geschmolzen waren und sich zu einem gespenstischen Etwas vermengt hatten.
    Ohne jede Vorwarnung schnappte eine der Hände nach Coralines Arm. Die Fingernägel ritzten ihr die Haut auf, aber die Hand war zu glitschig, um zupacken zu können, und Coraline konnte sich losmachen. Und dann gingen die Augen auf, vier schwarze Knopfaugen, die funkelnd auf sie herabblickten, und zwei Stimmen, die ganz anders waren als alle Stimmen, die Coraline je gehört hatte, sprachen sie an. Die eine Stimme jammerte im Flüsterton, die andere surrte wie eine dicke, zornige Schmeißfliege an der Fensterscheibe, aber beide Stimmen sagten wie aus einem Mund: »Du Diebin! Gib das wieder her! Haltet den Dieb!«
    Die Luft schwirrte von Fledermaushunden. Coraline wich zurück. Dann erkannte sie, dass das Ding an der Wand, das einmal die andere Miss Spink und die andere Miss Forcible gewesen war, in seinem Netz fest an der Wand haftete, eingehüllt in seinen Kokon. So grauenerregend es auch sein mochte – es konnte ihr nicht folgen.
    Die Fledermaushunde flatterten um sie herum und schwenkten die Flügel, aber sie unternahmen nichts, um Coraline etwas anzutun. Sie kletterte von der Bühne hinunter, leuchtete mit der Taschenlampe durch das alte Theater und suchte nach dem Ausgang.
    »Flieh, Miss«, jammerte eine Mädchenstimme

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