Coraline
den schwarzen Knopfaugen zu blinzeln. »Das hört sich alles sehr gut an«, sagte sie. »Und wenn du nicht verlierst?«
»Dann lässt du mich gehen. Du lässt alle frei – meinen richtigen Vater und meine richtige Mutter und die toten Kinder. Alle, die du hier festhältst.«
Die andere Mutter holte den Speck unter dem Grill hervor und legte ihn auf einen Teller. Dann ließ sie das Käse-Omelett aus der Pfanne auf den Teller gleiten und schnickte es dabei in die Luft, sodass es sich zu einer perfekten Omelettform zusammenlegte.
Sie stellte das Frühstück vor Coraline hin, zusammen mit einem Glas frisch gepressten Orangensaft und einem Becher mit schaumigem, heißem Kakao.
»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, dieses Spiel gefällt mir. Aber was für ein Spiel soll es sein? Ein Ratespiel? Ein Test von Wissen oder Geschicklichkeit?«
»Ein Entdeckungsspiel«, schlug Coraline vor. »Ein Spiel, bei dem es darum geht, etwas zu finden.«
»Und was solltest du deiner Meinung nach bei diesem Versteckspiel finden, Coraline Jones?«
Coraline zögerte.
»Meine Eltern«, sagte sie dann. »Und die Seelen der Kinder hinter dem Spiegel.«
Die andere Mutter lächelte so triumphierend, dass Coraline sich zu fragen begann, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber jetzt war es zu spät, um es sich noch mal anders zu überlegen.
»Abgemacht«, sagte die andere Mutter. »Und jetzt iss, meine Süße. Nur keine Bange – das Frühstück wird dir schon nicht schaden.«
Coraline machte sich über ihr Frühstück her. Sie hasste sich dafür, dass sie so leicht nachgab, aber sie hatte einen Riesenhunger.
»Woher weiß ich, dass du Wort hältst?«, fragte Coraline.
»Ich schwöre«, sagte die andere Mutter. »Ich schwöre es beim Grab meiner Mutter.«
»Liegt sie denn im Grab?«, fragte Coraline.
»Aber ja«, sagte die andere Mutter. »Ich habe sie selbst hineingelegt. Und als ich feststellte, dass sie wieder rauskrabbeln wollte, habe ich sie zurückgeschubst.«
»Schwör bei etwas anderem. Damit ich dir trauen kann, dass du Wort hältst.«
»Meine rechte Hand«, sagte die andere Mutter und hielt die Hand hoch. Dabei wackelte sie langsam mit den Fingern und stellte die klauenartigen Fingernägel zur Schau. »Ich schwöre bei ihr.«
Coraline zuckte mit den Schultern. »In Ordnung«, sagte sie. »Abgemacht.« Sie aß das Omelett und musste sich Mühe geben, nicht zu schlingen. Ihr Hunger war noch größer, als sie gedacht hatte.
Während sie aß, starrte die andere Mutter sie unverwandt an. Es war schwer, in den schwarzen Knopfaugen einen Ausdruck zu erkennen, aber Coraline fand, dass auch ihre andere Mutter hungrig aussah.
Sie trank den Orangensaft, konnte sich aber nicht überwinden, von dem heißen Kakao zu kosten, obwohl sie wusste, dass er ihr schmecken würde.
»Wo soll ich mit der Suche anfangen?«, fragte Coraline.
»Wo du willst«, sagte die andere Mutter, als wäre ihr das völlig egal.
Coraline sah sie an und dachte gründlich nach. Sie kam zu dem Ergebnis, dass es sinnlos wäre, den Garten und das Gelände zu erkunden: Das existierte ja gar nicht, war nicht wirklich vorhanden. In der Welt der anderen Mutter gab es keinen verlassenen Tennisplatz, keinen abgrundtiefen Brunnen. Nur das Haus war wirklich da.
Sie sah sich in der Küche um. Sie machte die Backofentür auf, schaute in den Kühlschrank, stocherte im Gemüsefach des Kühlschranks herum. Die andere Mutter folgte ihr auf Schritt und Tritt und wenn sie Coraline ansah, spielte immer ein höhnisches Grinsen um ihre Mundwinkel.
»Wie groß sind Seelen eigentlich?«, fragte Coraline.
Die andere Mutter setzte sich an den Küchentisch und lehnte sich an die Wand, ohne etwas zu sagen. Sie sto cherte mit einem langen, blutrot lackierten Fingernagel zwischen ihren Zähnen herum, dann trommelte sie mit den Fingern auf der glänzenden schwarzen Oberfläche ihrer schwarzen Knopfaugen, ganz sacht, klopf-klopfklopf.
»Na schön«, sagte Coraline. »Dann sagst du’s mir eben nicht. Ist mir doch egal. Ob du mir hilfst oder nicht, spielt keine Rolle. Es weiß sowieso jeder, dass eine Seele so groß wie ein Wasserball ist.«
Sie hoffte darauf, dass die andere Mutter so etwas sagen würde wie »Unsinn, Seelen haben die Größe von ausgereiften Zwiebeln – oder von Koffern – oder von Standuhren«, aber die andere Mutter lächelte nur und trommelte klopf-klopf-klopf mit dem Fingernagel auf ihrem Auge herum, ein Geräusch, das so regelmäßig und unablässig
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