Coraline
Sorgen machte, irgendetwas könnte sich plötzlich auf sie stürzen. Deshalb fing sie an zu pfeifen. Sie dachte, solange sie pfiff, wäre es vielleicht schwieriger für irgendwelche Wesen, über sie herzufallen.
Zuerst ging sie in die leere Küche. Dann durchquerte sie ein leeres Bad, das nur eine gusseiserne Wanne enthielt und in der Wanne eine tote Spinne, die so groß wie eine Katze war. Das letzte Zimmer, das sie sich ansah, war, wie sie vermutete, einmal das Schlafzimmer gewesen; zumindest konnte sie sich vorstellen, dass dort auf dem viereckigen Schatten im Staub früher ein Bett ge standen hatte. Dann entdeckte sie etwas, was ihr ein grimmiges Lächeln entlockte. In den Fußboden war ein großer Metallring eingelassen. Coraline kniete sich hin, packte den Ring mit beiden Händen und zog daran, so fest sie nur konnte.
Langsam, entsetzlich langsam, steif und schwerfällig hob sich ein an Scharnieren befestigtes Quadrat aus dem Fußboden empor. Es war eine Falltür. Als sie aufging, konnte Coraline durch die Öffnung nichts als Dunkelheit erkennen. Sie langte hinunter und ertastete einen kalten Schalter. Ohne große Hoffnung, dass er funktionieren würde, drückte sie darauf, aber tatsächlich flammte irgendwo unter ihr eine Glühbirne auf und ein dünnes gelbes Licht drang aus dem Loch im Fußboden empor. Sie konnte Stufen sehen, die nach unten führten, sonst jedoch nichts.
Coraline langte in die Tasche und holte den Stein mit dem Loch in der Mitte hervor. Sie schaute durch ihn in den Keller hinunter, konnte aber nichts sehen. Deshalb steckte sie den Stein wieder ein.
Durch das Loch im Boden drang der Geruch von feuchtem Lehm nach oben und noch etwas anderes, ein stechender, penetranter Geruch wie von saurem Essig.
Coraline ließ sich in das Loch hinunter und behielt dabei nervös die Falltür im Auge. Sie war so schwer, dass Coraline sicher war, für immer und ewig in der Dunkelheit eingeschlossen zu bleiben, wenn sie zufal len würde. Sie langte mit einer Hand hoch und tippte gegen die Tür, aber sie blieb in der Stellung, in der sie war. Und dann wandte Coraline sich dem Dunkel zu und stieg die Stufen hinunter. Unten an der Treppe war wieder ein Lichtschalter in die Wand eingelassen, ein verrosteter Schalter aus Metall. Sie drückte ihn, bis er nach unten klickte, und daraufhin ging eine nackte Glühbirne an, die an einem Draht von der niedrigen Decke hing. Das Licht, das von ihr ausging, reichte noch nicht einmal aus, dass Coraline hätte ausmachen können, was an die abblätternden Kellerwände gemalt war. Die Bilder kamen ihr grob und unfertig vor. Es waren Augen da, so viel konnte sie erkennen, und irgendwelche Dinger, die möglicherweise Weintrauben darstellten. Und darunter noch andere Dinge. Coraline war sich nicht sicher, ob das vielleicht Darstellungen von Menschen waren.
In einer Ecke des Raums lag ein Müllberg: mit stockfleckigem Papier gefüllte Kartons und daneben ein Haufen vermoderter Vorhänge.
Unter Coralines Pantoffeln knirschte es auf dem Zementboden. Der Gestank war jetzt schlimmer. Sie wollte schon kehrtmachen und gehen, als sie unter den Vorhängen einen Fuß hervorragen sah.
Ihr ganzer Kopf war mit dem Gestank von saurem Wein und schimmeligem Brot erfüllt. Sie holte tief Luft und zog den feuchten Stoff weg. Darunter kam etwas zum Vorschein, was in etwa die Form und Größe eines Menschen hatte.
In dem schwachen Dämmerlicht dauerte es einige Sekunden, bis sie erkannte, worum es sich handelte. Das Ding war bleich und aufgequollen wie eine Made und hatte steckendürre Arme und Füße. Das Gesicht, das wie aufgegangener Brotteig aufgebläht und geschwollen war, hatte fast keine erkennbaren Züge.
Dort, wo die Augen sein sollten, hatte das Ding zwei große, schwarze Knopfaugen.
Coraline gab einen Laut von sich, einen Ton des Abscheus und Entsetzens, und als hätte das Ding sie gehört und wäre davon erwacht, begann es, sich aufzusetzen. Schreckensstarr blieb Coraline stehen. Das Ding wandte den Kopf, bis beide schwarze Knopfaugen direkt auf sie gerichtet waren. In dem mundlosen Gesicht ging ein Mund auf, dem lange Fäden einer weißen Masse von den Lippen hingen, und eine Stimme, die jetzt nicht einmal mehr entfernt der Stimme ihres Vaters ähnelte, flüsterte: »Coraline.«
»Na«, sagte Coraline zu dem Ding, das einmal ihr anderer Vater gewesen war, »wenigstens hast du dich nicht auf mich gestürzt.«
Mit den dürren Ästen, die seine Hände waren, langte sich das Wesen
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