Coraline
in ihrem Kopf. »Flieh jetzt sofort. Du hast zwei von uns. Lauf von diesem Ort davon, solange dir noch das Blut in den Adern pulsiert.«
Coraline steckte die Murmel zu der anderen in ihre Tasche. Sie entdeckte die Tür, rannte darauf zu und zerrte daran, bis sie aufging.
9 .
D ie Welt draußen war inzwischen zu einem strukturlosen, wallenden Nebel geworden, in dem es keine Formen und Schatten gab, und das Haus schien sich gedreht und irgendwie gestreckt zu haben. Es kam Coraline so vor, als kauerte es sich zusammen. Und es starrte auf sie herab, als wäre es gar kein Haus, sondern nur die Idee eines Hauses – und sie war überzeugt davon, dass der Mensch, der diese Idee gehabt hatte, kein guter Mensch war.
An ihrem Arm haftete klebriges Zeug und sie putzte es ab, so gut es ging. Die grauen Fenster des Hauses waren schief und krumm.
Die andere Mutter stand mit verschränkten Armen im Gras und wartete schon auf sie. Ihre schwarzen Knopfaugen waren ausdruckslos, aber die Lippen waren in kalter Wut fest zusammengekniffen.
Als sie Coraline sah, streckte sie ihre lange, weiße Hand aus und krümmte einen Finger. Coraline ging auf sie zu. Die andere Mutter sagte nichts.
»Zwei habe ich«, sagte Coraline. »Jetzt bleibt noch eine Seele.«
Im Gesicht der anderen Mutter regte sich nichts. Es war, als hätte sie nichts gehört.
»Also, ich dachte, du würdest das gern wissen«, sagte Coraline.
»Danke, Coraline«, sagte die andere Mutter kalt. Ihre Stimme kam nicht aus ihrem Mund; sie kaum aus dem Nebel und dem Dunst und dem Haus und dem Himmel. Sie sagte: »Du weißt, dass ich dich liebe.«
Und gegen ihren Willen nickte Coraline. Denn es stimmte: Die andere Mutter liebte sie. Aber sie liebte Coraline, wie ein Geizhals das Geld liebt oder ein Drache sein Gold. Coraline wusste, dass sie in den Knopfaugen der anderen Mutter ein Besitzstück war, nicht mehr. Ein geduldetes Haustier, dessen Verhalten nicht mehr belustigend war.
»Ich will deine Liebe nicht«, sagte Coraline. »Ich will überhaupt nichts von dir.«
»Nicht mal ein bisschen Unterstützung?«, fragte die andere Mutter. »Du bist doch bisher so gut vorangekommen. Da dachte ich, du würdest vielleicht einen kleinen Tipp haben wollen, der dir bei der Schatzsuche weiterhilft.«
»Ich komme gut allein zurecht«, sagte Coraline.
»Ja«, sagte die andere Mutter. »Aber falls du dich in der vorderen Wohnung umsehen wolltest – in der leer stehenden –, dann würdest du feststellen, dass die Tür verschlossen ist. Und was machst du dann?«
»Ach.« Coraline dachte kurz nach. Dann fragte sie: »Gibt es einen Schlüssel dazu?«
Die andere Mutter stand im papiergrauen Nebel einer Welt, die immer flacher wurde. Ihr schwarzes Haar flatterte ihr um den Kopf, als hätte es ein Eigenleben und eigene Absichten. Plötzlich gab die andere Mutter tief aus der Kehle ein Husten von sich und öffnete dann den Mund.
Die andere Mutter langte hoch und klaubte einen kleinen Wohnungsschlüssel aus Messing von ihrer Zunge.
»Da«, sagte sie. »Den wirst du brauchen, um hineinzukommen.«
Lässig warf sie Coraline den Schlüssel zu und sie fing ihn mit einer Hand auf, noch bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie ihn überhaupt haben wollte. Der Schlüssel war immer noch leicht feucht.
Ein kühler Wind wehte um sie herum. Coraline fröstelte und wandte den Blick ab. Als sie wieder hinsah, stellte sie fest, dass sie allein war.
Unsicher ging sie zum vorderen Teil des Hauses und blieb vor der Tür zur leeren Wohnung stehen. Wie alle anderen Türen war sie leuchtend grün gestrichen.
»Sie will dir nichts Gutes«, flüsterte ihr eine Geister-stimme ins Ohr. »Wir glauben nicht daran, dass sie dir helfen will. Das ist bestimmt nur ein Trick.«
Coraline sagte: »Ja, da habt ihr wohl recht.« Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.
Lautlos ging die Tür auf und ebenso lautlos trat Coraline ein.
Die Wände in der Wohnung hatten die Farbe von alter Milch. Auf den Dielenbrettern lagen keine Teppiche. Sie waren mit Staub bedeckt, in dem sich Spuren und Muster von ehemaligen Teppichen und Läufern abzeichneten.
Es befanden sich keine Möbel darin, nur Stellen, wo früher einmal Möbel gestanden hatten. Die Wände waren ohne jeden Schmuck; nur verfärbte Vierecke zeigten an, wo einst Bilder und Fotos gehangen hatten. Es war so still, dass Coraline zu hören glaubte, wie der Staub durch die Luft schwebte.
Sie ertappte sich dabei, dass sie sich ziemlich
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