Corum 01 - Der scharlachrote Prinz
Sattel. Er erhob sich sofort und tastete nach den Zügeln. Aber das Tier galoppierte bereits zurück in das Tageslicht, das rot und gelb durch den Eingang schimmerte.
Einen flüchtigen Augenblick kam Corum der Gedanke, ihm zu folgen. Aber dann erinnerte er sich an das Gesicht des toten Hanafax, und er wandte sich um und stolperte tiefer hinein in die undurchdringliche Finsternis.
So schleppte er sich eine geraume Weile dahin. Es war kühl im Rachen des Löwen, und Corum fragte sich, ob die Königin Oorese nicht vielleicht nur ein Opfer ihres Aberglaubens gewesen war, denn das Innere dieses Löwenschädels schien nichts weiter als eine gewaltige Höhle.
Doch da begann das Rascheln und Knistern und Scharren.
Er vermeinte, Augen zu erspähen, die ihn beobachteten. Anklagende Augen? Nein! Boshafte, bösartige! Er zog sein Schwert. Er blieb stehen und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Er tat einen weiteren Schritt.
Wirbelndes Nichts umgab ihn. Farben umzuckten ihn, etwas kreischte, und Gelächter brachte seinen Kopf schier zum Bersten. Er versuchte einen weiteren Schritt.
Er stand auf der Oberfläche eines gewaltigen Kristalls, in den Millionen von Wesen eingeschlossen waren - Vadhagh, Nhadragh, Mabden, Ragha-da-Kheta und viele andere, deren Art ihm fremd war. Es gab Männer und Frauen, alle mit offenen Augen, alle starrten ihn an, alle streckten hilfesuchend die Hände nach ihm aus. Er hackte mit dem Schwert gegen den Kristall, aber er splitterte nicht einmal.
Er bewegte sich vorwärts.
Nun sah er alle fünf Ebenen gleichzeitig, eine über der anderen, so wie er sie als Kind gekannt hatte - wie seine Vorfahren sie gesehen hatten. Er war in einer Schlucht, einem Wald, einem Tal, einem Feld, einem anderen Wald. Er versuchte, sich auf eine Ebene zu beschränken, aber etwas hinderte ihn daran.
Brüllende Kreaturen stürmten auf ihn ein, zerrten mit den Zähnen an seinem Fleisch. Er schlug sie mit dem Schwert in die Flucht. Sie verschwanden.
Er überquerte eine Brücke aus Eis. Sie begann zu schmelzen. Abscheuliche Untiere mit scharfen Hauern warteten unten auf ihn. Das Eis zersprang. Er verlor seinen Halt. Er fiel.
Er versank in einem Strudel kochender Materie, die Formen schuf und sie sofort wieder vernichtete. Er sah Städte wachsen und zerfallen. Er sah Wesen, manche von bezaubernder Schönheit, andere unbeschreiblich häßlich; Gestalten, die Liebe in ihm erweckten, und solche, die Haß hervorriefen.
Gleich darauf war er wieder zurück in der Dunkelheit der riesigen Höhle, wo Unsichtbares kreischte und ächzte und huschend seinen Füßen auswich.
Corum wußte, daß jeder andere, der wie er dieses Grauen geschaut hätte, nun dem Wahnsinn verfallen wäre. Außer dem Auge Rhynns und der Hand Kwlls hatte er noch etwas von Shool, dem Zauberer, erhalten - die Fähigkeit nämlich, ungerührt auch den gräßlichsten Abnormitäten Auge in Auge gegenüberzustehen und sich nicht von Erscheinungen, gleich welcher Art, beeindrucken zu lassen.
Aber das bedeutete, daß er auch etwas verloren hatte.
Er tat einen weiteren Schritt.
Er befand sich knietief in schleimigem Fleisch, das formlos war, aber lebte. Es begann ihn einzusaugen. Er schlug mit dem Schwert um sich, war aber bald bis zur Mitte eingesunken. Er holte tief Luft und zwängte sich durch die eklige Masse.
Er befand sich unter einer Kuppel aus Eis, und um ihn herum standen Millionen von Corums. Dort war er unschuldig und vergnügt vor dem Auftauchen der Mabden; dort düster und grimmig mit seinem juwelenbedeckten Auge und der Mörderhand; dort kurz vor dem Sterben.
Ein weiterer Schritt.
Blut überflutete ihn. Er versuchte, auf die Beine zu kommen. Die häßlichen Fratzen von vier Reptilien erhoben sich aus der klebrigen Flüssigkeit und schnappten nach seinem Kopf.
Sein Instinkt befahl ihm, wegzulaufen. Aber er schwamm auf sie zu.
Er stand in einem Tunnel aus Silber und Gold. An seinem Ende befand sich eine Tür, durch die Lärm drang.
Mit dem Schwert in der Hand trat er hindurch.
Ohrenbetäubendes Gelächter erfüllte die gewaltige Halle, in der er sich nun fand.
Corum hatte den Palast des Schwertritters erreicht.
DAS SECHSTE KAPITEL
Die Parasiten des Gottes
Die Größe der Halle wirkte einschüchternd auf Corum. Plötzlich kamen ihm seine Abenteuer, Empfindungen, seine Wünsche, seine Schuldgefühle unbedeutend, unwichtig vor. Das wurde noch durch die Tatsache verstärkt, daß er nicht sofort von Arioch empfangen wurde, wie er es erwartet
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