Coruum Vol. 1
Maya. Sinistra ging fasziniert auf die Projektion zu. Sie wirkte absolut echt, wie eine heimlich gefilmte Szene.
»Das ist der König von Coruum! Quetzal-Jaguar. Seht nur, es ist eine Aufzeichnung des Textes, den ich gerade vorgelesen habe.«
Jetzt bemerkte ich es auch. Die Projektion verlief in einer Schleife. Das Tosen waren die Geräusche der anderen Zuschauer. Der Maya-König war ein stattlicher Mann. Er überragte seine Nachbarn um gut einen Kopf. Mit seinem über einen Meter hohen Federschmuck wirkte er riesig.
»Karen, sieh dir seinen Anzug an. Das müssen authentische Aufnahmen sein!« Sinistra war außer sich vor Freude, ihre toten Studienobjekte vergangener Jahre plötzlich zu Leben erweckt zu sehen.
»Das ist ein Anzug aus gegerbtem Tapirleder, so etwas trugen nur Könige. Die Nähte sind aus der Haut der rot-weißen Korallenschlange – und der Mantel ist aus Jaguarfell.« Sie war fassungslos.
»Authentische Aufnahmen?« Karens Stimme holte uns aus dem Traum zurück. »Von 560 nach Christus?« Wir sahen uns fragend an, die Szenerie um uns herum setzte sich endlos fort.
»Unwahrscheinlich, zugegeben, aber was soll es sonst sein?« Ich ging dicht an die Projektion heran. Ich konnte um sie herumgehen und die Szenen aus jedem Blickwinkel betrachten. Ich trat in die Projektion und besah mir den König genau. Es musste echt sein. Jedes Haar war zu erkennen, jede Wimper der besorgt dreinblickenden, schwarzen Augen zuckte. Die Klinge seines überkopfgroßen Zeremonienzepters blitzte unheilvoll im Licht der Fackeln.
Karen und Sinistra verfolgten mein Tun aufmerksam. Ich trat zu ihnen zurück.
»Es klingt sehr unwahrscheinlich, aber ich denke, wir sind uns darüber einig, dass auch die Stele und dieser Raum nicht gerade in unser etabliertes Bild von den untergegangenen Völkern Mittelamerikas im sechsten Jahrhundert nach Christus passen.«
Die Projektion erstarb. »Dieser Raum ist ein lebendes Archiv, und ich bin sicher, wir werden die Antworten hier drin finden.« Karen sah sich auffordernd um. Sie stutzte. »Die Öffnung ist verschwunden.«
Wir sahen zur Wand, in der sich die Öffnung befunden hatte, durch die wir den Raum betreten hatten. »Vielleicht eine Sicherheitsmaßnahme«, sagte ich, »ausgelöst durch das Abspielen der Projektion. Der Schlüssel ist jedenfalls noch da.«
»Und wenn zu jedem Relief hier ein solcher Film gespeichert ist, werden wir mehr Antworten finden als wir im Moment Fragen haben.« Sinistra kniete bereits wieder vor der Wand. »Ich mache noch einen Test, bevor wir gehen. Hier ist ein Bild, das ich nicht verstehe. Das Aussehen des Mannes ist untypisch für einen Maya.«
»Quetzal-Jaguar trat zwischen Speer des Königs und seinen Begleitern durch. Das zweitausendjährige Warten hatte ein Ende. Er ging auf den Besucher zu, der mit weit geöffneten Armen auf ihn zukam, und umarmte seinen alten Freund – diese Hieroglyphe kenne ich nicht – Harkcrow herzlich wie einen lange verlorenen und dann unerwartet wiedergefundenen Bruder.« Sinistra übersetzte die Bildunterschrift etwas stockend.
Ich sah mir die Linien an, auf die ihr Finger zeigte. In der Tat sah der Mann deutlich anders aus, als die Darstellungen in den Mayareliefs davor. Er trug keinerlei Kopfschmuck und auch sonst keine Anzeichen, die einen hohen Maya-Würdenträger zur damaligen Zeit angestanden hätten, und mir fiel noch etwas auf.
Unter seiner Darstellung prangte ein Zeichen, das mir die Haare auf den Armen zu Berge stehen ließ.
»Hast du das Zeichen unter ihm gesehen, Sinistra?« Sie blickte konzentriert darauf und überlegte kurz. Dann hatte sie es.
»Mein Gott, das ist das Zeichen, das Professor Williams kurz vor seinem Tod in den Straßenstaub gezeichnet hat. Und es ist eines der drei Zeichen auf der Stele!«
Das Auge mit den zwei übereinander stehenden Pupillen blickte uns von der Wand her an.
Ich nickte. »Ich bin sehr gespannt. – Wie hast du den Film gestartet?« Sie sah mich lächelnd an und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So«, und drückte leicht auf das Relief.
Wir erhoben uns, drehten uns um und standen plötzlich auf dem Dach eines Gebäudes hoch über einem Meer von Fackeln. Vor uns saßen mehrere Maya in hölzernen, mit Stroh und Tüchern bedeckten Sesseln, unter ihnen der König und sein Hohepriester. Sie alle schienen auf etwas zu warten, keiner sagte etwas, nur ein leichtes Windgeräusch drang an meine Ohren. Ich blickte über ihre Köpfe in eine Richtung, in der
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