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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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bis zur Ohlmüllerstraße, in der sich mein Zimmer befand.
          Ich wollte nicht nachdenken, nicht grübeln, sondern lieber meinen Kopf abschalten, doch der wollte es anders. Er wollte mir erst richtig ins Bewusstsein rücken, was ich eben erlebt hatte.
          Während Darius über meinen Bauch gestrichen und mir darüber meinen Tag erzählt hatte, hatte ich in einer Art Dämmerzustand kaum gestaunt. Ich hatte es hingenommen, wie man Märchen hinnimmt oder Träume, solange man träumt. Und wie aus einem Traum wachte ich jetzt auf und dachte ›so ein Blödsinn‹. Anders als bei einem Traum wusste ich aber noch jedes Detail. Ich spürte nicht nur den leichten Druck seiner Finger, die Nachwärme der angenehmen Berührung, sondern ich sah Darius neben mir sitzen, hörte seine Stimme, die Worte, die er gesagt und die Vorwürfe, die er mir gemacht hatte.
          Ich war durch die Oefelestraße gehend am Edlinger Platz angelangt. Meine Füße fanden den Weg allein. Den Kreisverkehr entlang bis zur Entenbachstraße, dann immer geradeaus. Wenigstens die Füße durften geradeaus. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Je genauer ich mich erinnerte, umso mehr wurde der Traum wieder Realität, umso ängstlicher wurde ich. Was hatte Darius alles gespürt? Wie weit gingen die Geschichten zurück, die er erfühlen konnte? Reichten sie bis zum Morgen des Heute oder weiter hinaus? Eine Woche, einen Monat, ein Jahr, ein ganzes Leben?
          Egal, wie wenig man zu verbergen hat, es ist beängstigend, wenn jemand alles weiß, es ist, als dringt jemand in dein Privatestes vor: dich selbst. Vielleicht erlag ich dem Verfolgungswahn, der latenten Furcht vor Entdeckung, die bei einem Leben in der Illegalität zur Gewohnheit wird, zur ständigen Begleiterin auf allen Wegen. Jemand könnte mich denunzieren, verhaften, wegen unsittlichen Verhaltens, wegen sexueller Anträge, wegen Geschlechtsverkehrs mit einem Mann. Neuneinhalb Jahre Freiheit, von der ich schmecken durfte und trotzdem die gleiche Angst.
          Es beruhigte mich nicht, mit Darius im gleichen Gesetzesbruch verbunden zu sein. Er würde mich nicht verraten, davor hatte ich keine Angst. Mich beunruhigte der Gedanke, was er alles wusste. Hatte er meinen Vater gespürt, den überzeugten Nazi, der trotz allem schon wieder im Schuldienst stand? Oder hatte er die die Scheidung meiner Eltern ertastet, Theodore, den amerikanischen Soldaten, der bei uns einquartiert worden war und dessentwegen ich im Bett meiner Mutter schlafen musste, bis er es mit ihr teilte? Wusste er von Heinrich?
          Das waren alles keine Geschehnisse, von denen ich ihm nicht erzählen würde. Aber ich hätte gerne entschieden, wann.
          Ich war in der Ohlmüllerstraße angelangt, schlich die Treppen hoch, durch die Wohnung zu meinem Zimmer, so darauf konzentriert, leise zu sein, dass die Gedanken nachließen. Aus dem Wohnzimmer meiner Vermieter hörte ich gedämpfte Stimmen. Sie waren also noch nicht schlafen gegangen. In meinem Zimmer schaltete ich das Radio an, noch bevor ich den Dufflecoat auszog. Anders als Darius' Wohnung hatte mein Zimmer eine Heizung. Ich musste weder Kohle schleppen noch warten, bis es warm wurde. Ein unglaublicher Luxus. Leise ging ich in die Küche, erhitzte Wasser mit einem Tauchsieder, um Tee zu kochen. Durch die kalte Luft draußen und durch die wirbelnden Gedanken war ich viel zu wach, um schon schlafen zu gehen. Ich sah aus meinem Fenster über die beleuchtete Stadt Richtung Humboldtstraße. Warum hatte er es verderben müssen? Es war doch so schön mit ihm.
          Frau Bergmoser, meine Vermieterin, kam in die Küche. »Sie haben ja gar nichts von dem Gulasch gegessen, Herr Wrobel.« Sie schüttelte den Kopf und verzog leicht den Mund, da ich mit dem Hintern halb am Küchentisch lehnte, während ich auf das Wasser wartete. Etwas, das sie nicht ausstehen konnte. Die Hände wischte sie gerade in der zart karierten Schürze ab, die aussah, als wäre sie aus Geschirrtüchern selbst genäht. »Ein junger Mann wie Sie muss doch ordentlich essen.«
          »Die Gattin meines Chefs hatte mich eingeladen. Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein.« Frühstück und warme Mahlzeiten gehörten zum Mietpreis. Vielleicht achtete Frau Bergmoser deshalb so darauf, was ich zu mir nahm und begutachtete mit skeptischem Blick meine Figur.
          »Abgenommen haben Sie jedenfalls nicht bei mir«, sagte sie lächelnd. »Hoffentlich haben Sie dort

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