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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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den Schlafsaal. Längst habe auch ich mein Nachthemd an, sitze bei meinem Freund auf dem Bett. Hätte ich ihn geschlagen, hätte ich keinen Tannenzweig genommen.
          Der Geistliche inspiziert den Schlafsaal, kommandiert mich an meinen Platz, blickt mir scharf ins Gesicht.
          »Er hat mir doch gar nicht wehgetan«, sage ich.
          »Strafe muss sein«, antwortet der Pfarrer. »Und wer mit Tannenzweigen schlägt, muss spüren, wie es sich anfühlt.«
          
          Ich stürzte zurück in die Nacht, landete unter der Daunendecke auf der etwas zu weichen Matratze und sah nur noch die Silhouetten der Möbel in meinem Zimmer.
          Ich knipste die Nachttischlampe neben dem Bett an und schaute auf den Wecker. Es war gerade ein Uhr zehn. Die Daunendecke klebte an meiner Haut wie im Sommer. Ich stand auf, spürte trotz des ängstlichen Herzklopfens eine Erektion. Ein bisschen frische Luft würde nicht schaden, also öffnete ich das Fenster, sah über die dunkle Stadt, in der nur wenige Lichter brannten, und atmete tief ein, bevor ich wieder ins Bett ging.
          
          Wie lange hatte ich nicht an Heinrich gedacht? Jenen Jungen damals im Schullandheim, in welches ich zum Besuch der dritten und vierten Klassen verschickt worden war. Hätte ich als Neunjähriger schon in dieser Kategorie gedacht, er wäre meine erste große Liebe gewesen, meine Sehnsucht, meine Neugier. Wir waren unzertrennlich, saßen während des Unterrichts immer zusammen, verbrachten die Pausen miteinander, spielten in der freien Zeit gemeinsam und nahmen uns bei den Spaziergängen in Zweierreihen gegenseitig an die Hand. Heinrich war ein blasses Kind, blond und blauäugig, wie die Machthaber es sich wünschten, aber sommersprossig. Wenn wir anderen im Sommer Farbe bekamen, bekam er einen Sonnenbrand. So schmal und schwach, wie er war, wäre er nie in der Lage gewesen, einen Tannenzweig abzubrechen, nicht einmal einen kleinen.
          Heinrich war ein Kind des Gehörs. Er hatte Klavierunterricht. Jeden Tag musste er eine Stunde üben. Und um nicht von ihm getrennt zu sein, saß ich währenddessen immer still in der Ecke, lauschte seinen Tonleitern, seinen Etüden, seiner Musik, bis er den Deckel des Klaviers schloss und wieder Zeit für mich hatte.
          Töne faszinierten ihn. Bei den Spaziergängen horchte er auf die Vögel, versuchte, deren Stimmen nachzumachen. Er achtete auf den Rhythmus der Schritte über den Waldboden, auf die Zweige, die unter unseren Schuhen knackten, und entdeckte eines Tages den Klang des Tannenzweigs, der auf eine raue Krachledernde klatschte. Er hat ihn nicht abgebrochen, sondern vom Weg aufgelesen, für ihn war mein Hosenboden die Trommel, auf der er unseren Marsch schlagen konnte. Und er hat mich gefragt, ob es mir etwas ausmachte, bevor er sie benutzte.
          Ich genoss den rhythmischen Schlag der Zweige, die Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde, spürte nur ein leichtes Ziehen durch das dicke Nappaleder. Es war ein Spiel zwischen uns, wie jedes andere auch. Es war Musik, wie die Tonleitern, wie die Etüden, wie die Vögel im Wald und die Schritte über die Zweige. Bis der Pfarrer, der das Schullandheim leitete, Heinrich für das Spiel bestrafte. Ob er auch während der Schläge des Geistlichen auf den Rhythmus achtete, auf das Geräusch der Zweige und Nadeln, die auf die Haut seines Hintern klatschten, hat er mir nie erzählt.
          
          Unruhig wälzte ich mich wieder in den Schlaf und in neue Träume. Meine Mutter neben mir unter der Decke, weit entfernt in meinem Bett schnarcht ein Mann, stößt manchmal Wörter aus, die ich nicht verstehe. Als träumte er in meinem Traum vom Krieg. Ein Frühstückstisch, meine Mutter auf dem Schoß des Soldaten, ein Amerikaner in Wehrmachtsuniform, das Haar so blond wie ein Hitlerjunge, Sommersprossen wie Heinrich, aber braune Augen. Mama zündet sich eine Zigarette an, die sie dem Soldaten in den Mund steckt. Ich stehe auf, hole einen Porzellanaschenbecher und stelle ihn auf den Tisch. Es riecht nach Karokaffee, Rauch und gebratenem Ei. Papa steht in der Tür und schimpft: »Verräter. Ihr seid alle Verräter.« Und dann tauschen sie Unterschriften. Papa willigt in die Scheidung ein, der Amerikaner in Papas Aufnahme in den Schuldienst. Karriere ein Tauschhandel, Überzeugung ein alter Ledermantel – zum Glück nur ein Traum.
          Papa geht aus meinem Traum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich bin verloren

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