Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
doch fühlt es sich an, als wäre ein Loch in die Sehnsucht gerissen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn nicht zu treffen, ihn nicht anzusprechen. Aber als ich ihn sah, hatte ich keine Wahl.
»Nach so vielen Jahren wird es glaube ich Zeit, dass ich deine Wohnung mal kennenlerne«, sagt er. »Ohne Angst, ohne Vorsicht und ohne Bedenken.«
»Lädst du dich gerade zum Essen ein?« Ich stehe auf, schiebe meinen Stuhl an den Tisch und schaue Darius an.
»Ich bin sicher, du kochst hervorragend.«
Ich fühle mich wie mit Zwanzig. Spannung erfasst meinen Körper, sogar eine leichte Geilheit, ein irrealer Gedanke angesichts Darius’ Jugend. Sofort schäme ich mich. Sowohl wegen der Erektion als auch wegen der Falten, der schlaffen Haut, des Bauchs, den ich in den Jahren angesetzt habe. Wieder bin ich froh, dass Darius mich gerade nirgends berührt.
»Ob hervorragend, weiß ich nicht. Aber es lässt sich essen.«
Auch er steht auf. »Dann komm«, sage ich und gehe langsam durch die Menschenmenge auf dem Ponton zu meinem Auto, das wie immer, wenn ich hier bin, im Parkhaus unter dem Hafenrestaurant steht.
»Hast du kein Auto?«, frage ich, als wir uns in den Verkehr Richtung Helgoländer Allee eingereiht haben.
»Ich bräuchte einen Führerschein. Und eine Identität.«
Wieder Schweigen.
Ich fühle mich etwas dumm, hätte selbst darauf kommen müssen, aber vielleicht bin ich einfach zu überrascht, um seine Lage zu sehen. In einem Ausweis müsste ein Geburtsdatum stehen, das bei ihm immer nach Fälschung aussähe. Wie alt ist er? Wie alt war er, als ich ihn kennenlernte? Er muss unglaubliche Angst vor Razzien gehabt haben, vor Erpressungen oder vor Kontrollen. Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass er keinen Pass haben könnte. Viel zu selbstverständlich erschien es mir, regelmäßig zu Behörden zu gehen, wenn ich den Wohnort wechselte oder wenn die Papiere abgelaufen waren. Bei Auslandsreisen, bei Kontoeröffnungen, beim Führerschein, sogar bei der Arbeitssuche. Man brauchte immer einen Beleg darüber, überhaupt zu existieren. Mein Beleg für seine Existenz war meine Erinnerung. Seine Berührungen, unsere Unterhaltungen, unser Ausflug in die Alpen, das alles machte ihn real für mich. Ich brauchte kein Stück Papier.
»Worüber denkst du nach?«
»Darüber, dass ich ein Phantom geliebt habe.«
»Im juristischen Sinne schon. Erschreckt dich das?«
»Ich weiß, dass es dich gibt.«
Er fragt, ob er in meinem Auto rauchen dürfte, ich nicke. Dieses Mal lehne ich ab, als er mir eine anbietet. Er sitzt ja bei mir, wir wissen um einander. Ich muss sie nicht als Zeichen der Kontaktbereitschaft annehmen.
»Darf ich dich fragen, wie alt du wirklich bist?«
»Ja«, sagt er und atmet den Rauch aus. Dann schweigen wir wieder. Ich fahre die Helgoländer Allee entlang über den Millerntorplatz zur Glacischaussee. Darius drückt die Zigarette aus, ich stelle das Radio an. Musik spült die Atmosphäre im Auto weich. Nach der Werbung erzählt der Nachrichtensprecher von Attentaten im Irak und von anhaltendem Frost. Die ganz normale Routine einer Fahrt, aber in mir pocht erwartende Anspannung.
»Und?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Darius. »Mit den Jahren verliert man das Gefühl dafür und ich habe nichts, worin ich nachschlagen könnte. Es ist, als lebte ich schon immer.«
Im Radio haucht ein Mädchen so naiv, es wolle nur spielen, dass man meint, ihrer Stimme und dem Text das blonde Haar anzuhören. Ich fahre durch die Rentzelstraße.
»Was ist deine älteste Erinnerung?«
Darius zupft am Gurt, streckt die Beine aus. »Auch das weiß ich nicht. Ich habe nicht viele Erinnerungen. Du bist eine von den wenigen. Mein Leben findet immer in der Gegenwart statt.«
Ich frage mich, ob er mir nur schmeichelt. Aber seine Erlebnisse können längst die Dimension dessen überschritten haben, was sich speichern lässt. Dann muss er vergessen, um nicht überzuquellen. Warum kann er sich dann gerade an mich erinnern? Weshalb ich es an ihn kann, ist klar. Er hat zu viel Eindruck hinterlassen, zu tiefe Gefühle. Und er war viel zu plötzlich fort, ohne eine Spur zu hinterlassen, der ich folgen konnte.
»Wo wohnst du?«
»Mal hier, mal dort. Es ist schwer, heutzutage
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