Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
eine Wohnung zu bekommen, wenn man kein Bankkonto und keine Papiere hat. Zum Glück muss ich mir ja um meine Gesundheit keine Sorgen machen. Ich komme bestimmt nicht um.«
All die Vorwürfe, die noch in meinem Körper stecken, werden langsam zu Schuldgefühlen. Er hat mich verlassen. Und die Gründe habe ich nur in mir gesucht, nie in ihm. Jetzt höre ich Bitterkeit in seinen Worten, nicht in seinem Ton. Es klang nicht sarkastisch, was er sagte, sondern ganz nüchtern. Es klang ehrlich, wenn er »zum Glück« sagte, sogar ehrlich dankbar. Dankbarer, als ich es war, die letzten Tage in München auf der Suche nach ihm. Ich hatte von seinem Leben schmecken dürfen, nachdem er gegangen war.
»Damals in München hatte ich die Papiere eines gestrandeten Soldaten. Er hieß Darius Beckmann. Im Januar 1954 hatte ihm die Stadt noch einen Empfang bereitet, als er aus weißrussischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Doch bei seiner Frau lebte ein Amerikaner, seine Eltern waren tot und eine Bleibe fand er nur in einem der Flüchtlingslager, die nach und nach geschlossen wurden. Ich traf ihn im Dezember in einer der Gaststätten, die von der Stadt als Wärmestuben eingerichtet waren. Erinnerst du dich?«
Ich nicke, während ich gerade an eine rote Ampel an der Hallerstraße fahre und herunter schalte. »Ein paar Erinnerungen scheinen dir ja geblieben zu sein.«
»Die Wohnung in München ist mit dir verbunden. Natürlich erinnere ich mich an sie.« Er lacht. Zum ersten Mal, seit ich ihn wiedersehe, lacht er. »Wie ich an sie gekommen bin, hättest du mich vor einer Stunde aber nicht fragen dürfen. Bei konkreten Fragen, oder wenn ich etwas erzählen will, kommen manchmal die Ereignisse zurück, so als schraubten sie sich auf Abruf an die Oberfläche, wenn ich sie gebrauche. Wenn du mich aber nach der ältesten Erinnerung fragst, kann ich dir keine nennen.«
Die Ampel schaltet wieder auf grün, ich kann in die Hochallee fahren. Es dauert noch, bis ich zum Brombeerweg komme, in dem ich ein kleines Haus direkt am Alsterlauf habe. Ich bin Bayer, aber ich habe immer das Wasser gesucht. In München lebte ich in der Nähe der Isar, in Hamburg zunächst beim Fischmarkt, später in Farmsen. Doch weil das Wasser dort zu weit fort war, bin ich nach Fuhlsbüttel gezogen. Dort ist der Fluss zwar zu schmal und flach für Schiffe, aber er führt Wasser mit sich.
»Ich erinnere mich an die Wärmestuben«, sage ich. »Alle zehn Tage wurde Musik gespielt, oder es war eine Künstlergruppe zu Gast. Deshalb war ich ab und zu dort. Unter den Künstlern waren manchmal Menschen wie du und ich.«
»Wie du und ich«, wiederholt Darius und legt mir die Hand aufs Knie. »Zum Glück müssen wir das heute nicht mehr so verklemmt ausdrücken.«
Kurz erschrecke ich, auch wenn die Erektion, die ich beim Hafen noch hatte, vergangen ist und die Anspannung während seiner Erzählung und seines Lachens nachgelassen hat.
»Dieser Beckmann wusste nicht, dass ich keine Papiere hatte. Er wusste gar nichts über mich, er war betrunken und erzählte von der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Er sei ein Heimkehrer ohne Heim, sagte er, die Isar riefe ihn. In ihren feuchten Armen wollte er sein Haupt niederlegen und schlafen. Er drückte mir die paar Habseligkeiten, die er noch hatte in die Hand, er bräuchte sie nicht mehr. Es war nur eine Aktentasche aus braunem Leder, darin sein Ausweis, ein Tagebuch, in das er an der Front Briefe an seine Frau geschrieben hat und eine Geldbörse mit zehn Mark und vierundsechzig Pfennig. Als ich ihn überreden wollte, zu bleiben, die Wärme der Gaststätte auszukosten, wurde er böse. Um Streit oder eine Schlägerei zu vermeiden, nahm ich die Sachen und nahm mir vor, aufzupassen, damit er nicht in den Fluss ging. Doch das war nicht mehr nötig. Denn er kippte einfach nach vorne mit dem Gesicht auf den Tisch und sagte gar nichts mehr. Der Fährmann hatte ihn über die Isar gefahren. Bevor die Polizei auftauchte, nahm ich die Aktentasche an mich und verschwand, noch ehe jemand den Tod des Mannes bemerkte.
Mit dem Ausweis und einer Barzahlung der ersten Monatsmiete, dem Versprechen, auch als Mann das Treppenhaus zu bohnern und der Lüge, meine Frau käme die nächsten Wochen aus Frankfurt nach, sobald sie einige wichtige Angelegenheiten erledigt hätte, konnte ich den Hausbesitzer damals überzeugen, mir die Wohnung zu
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