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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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zwischen seinen Fingern.
    Plötzlich war mir kalt. Eisig kalt. „Was meinen Sie damit, ich sei endlich angekommen?“
    Rot legte die Uhr an ihren Platz zurück, richtete sie aus . „Zerfall und Stillstand“, sagte er ohne mich anzusehen. „Und was bedeutet Stillstand? Tod“, gab er sich selbst die Antwort. „Stillstand bedeutet Tod. Ah, aber nun“, jetzt wendete er sich mir zu, „sind S ie da. Und die Uhren werden weiter ticken, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr.“
    Wie zum Beweis seiner Worte begannen einige Standuhren zu schlagen. Doch bei weitem nicht alle. Und als ich mich umsah, erkannte ich, dass die Uhren unterschiedliche Zeiten anzeigten, einige gingen Rückwärts, einige Zeiger übersprangen in einer Sekunden ganze Stunden und andere standen still. Aus einer Kuckucksuhr hing der Kuckuck, als hätte man ihn an den Füßen aufgeknüpft.
    Die Stille, die eintrat, als der letzte Gongschlag verklungen war, war noch schlimmer, als das stete Ticken zuvor. Die Uhren belauerten mich. Rot lächelte. Stillstand bedeutet Tod. Langsam ging ich rückwärts, bis ich an den Tisch in der Zimmermitte stieß.
    „Oh“, durchbrach Rot die drückende Stille. „Sie wollen uns doch nicht verlassen, Frau Catrin? Sie können uns noch nicht verlassen.“ Er neigte seinen Kopf und lauschte, hob seine Hände wie ein Dirigent und nach und nach begannen die Uhren, die Ouvertüre zu ihrer mechanischen Symphonie zu ticken. Rot wiegte sich im Klang der Zeiger und Uhrwerke und lachte sein fauliges Lachen.
    Meine Hände zitterten, als ich sie auf die Ohren presste. „Bitte“, sagte ich. „Was wollen Sie von mir?“
    Rot senkte die Arme und die Uhren tickten wie gewöhnliche Zeitmesser . „Ich möchte Ihnen mein Meisterstück zeigen.“ Er deutete auf eine Tür am Ende des Raumes und streckte mir seine Hand hin. „Ich brauche Ihre Hilfe. Wir alle brauchen Ihre Hilfe.“ Hinter seinem hageren Körper begann das Pendel einer Standuhr zu zittern und krachte metallisch scheppernd zu Boden. Er machte einen Schritt auf mich zu, die Hand noch immer ausgestreckt. Sein Lächeln war einem Stirnrunzeln gewichen. „Bitte“, flüsterte er, „haben Sie keine Furcht. Die Entscheidung liegt allein in Ihrem Ermessen. Aber entscheiden Sie nicht, bevor Sie gesehen haben. “
    Ich hatte Angst, doch wie der Uhrmacher vor mir stand in seinen schäbigen Kleidern, den Oberkörper leicht gebeugt wie unter einer schweren Last, tat er mir fast leid. Und hatte ich denn eine Wahl? Er würde mich nicht gehen lassen, das konnte ich in seinen Blicken lesen. Ich war der Strohhalm, an den er sich klammerte, aus welchen Gründen auch immer.
    „Was muss ich gesehen haben?“, fragte ich.
    Seine Miene erhellte sich. „Die Tochter, die Mutter, das Herz, das den Takt vorgibt, den Zeigern den rechten Weg weist.“
    Mein Herzschlag beschleunigte sich und das Ti cken der Sekundenzeiger schien sich mit ihm zu beschleunigen. Ich legte meine Hand in Rots Hand und schauderte, als seine kalten, trockenen Finger sich fest um meine schlossen.

    W ie lange hatten sie das Haus nicht mehr verlassen? Tage, Wochen? Irina hatte sich zu einem aufgeweckten, fröhlichen Mädchen entwickelt. Lizzie lächelte, als ihre Tochter den Kopf fest an ihre Brust drückte.
    Etienne schlief seit einiger Zeit im Gasthaus. Seit dem Feuer. Sie schloss die Arme um den kleinen, warmen Körper und k üsste Irinas Scheitel.
    War das nötig?
    Er machte mir Angst. Solche Angst.
    Aber er ist dein Vater.
    Nein.
    Nein, das ist er nicht.
    Im Kamin glomm nur noch ein schwacher Rest Glut . Die Stube war düster, aber sie brauchten kein Licht, sie konnten einander sehen. Und das genügte.
    Aber was wird sein. Später?
    Alles wird sein, alles was sein kann wird sein. Jetzt und morgen und später.
    Ich …
    … liebe dich.
    Wir.

    „ E s war ein Fehler. Wir haben nichts erreicht. Rein gar nichts.“ Etienne blickte in die Gasse, die zum Stall führte und zu seinem Haus, das vom Dorfplatz aus nicht zu sehen war.
    „Dann ist es vorbei“, sagte Marie und stützte sich fest auf ihren Stock, der im feuchten Boden einsank. Sie humpelte auf Etienne zu und strich über die Brandnarbe auf seiner Wange. „Wir haben es versucht, aber das Schicksal hat einen anderen Weg gewählt.“
    „Schicksal“, er spuckte ihr das Wort ins Gesicht. „Willst du aufgeben, einfach so? Jetzt, wo es weiter gehen könnte? Hundert Jahre lang Starre und Hoffnungslosigkeit. Ich will … Ich kann nicht glauben, dass das Schicksal uns dieses

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