Cosm
vermutete, daß sich der Flaschenhals, der die beiden Universen miteinander verband, immer weiter dehnte und seinerseits eine Rotverschiebung einbrachte. Eine Komplikation mehr.
Doch von solchen Überlegungen ließen sie sich nicht aufhalten. Zak war bereits dabei, die optischen Diagnostiken zurückzuschwenken. Alicia verstand sofort. Infrarot- und andere Sensoren hatten keine Eile; im Augenblick wollten sie nur sehen .
Eine halbe Stunde später lagen die ersten Aufnahmen der Hochgeschwindigkeitskamera vor. Die rötlichen Flecken waren offenbar weit entfernte, glühende Staubwolken. Die Leuchtspuren, die zu saphirblauen und rötlichen Kristallpunkten zerfielen – Mückenschwärme von Kugelsternhaufen.
Sie schalteten alle Lichter aus und setzten sich im Dunkeln vor den Cosm. Es war völlig still im Raum. Grelle Türkisblitze schossen über die rote Glut im Hintergrund der Kugel. Die Intimsphäre der Sterne. Jahrtausendelange Geburtswehen. Einen Moment wie diesen hatten sie im Laufe der indirekten Studien mit allen möglichen Instrumenten nie erlebt. Nun schauten sie geradewegs in den Schoß einer anderen Schöpfung und spürten deren Leben in allen Fasern.
»Alicia?« Das war Onell, der Fachbereichsvorsitzende, einer der wenigen, denen sie die Nummer ihres Mobiltelefons gegeben hatte. »Könnten Sie vielleicht bald einmal bei mir reinsehen?«
»Ich habe ziemlich viel zu tun. Worum geht es?«
»Darüber möchte ich am Telefon nicht sprechen.« Das klang vorsichtig, fast abweisend.
»Lassen Sie mich wenigstens noch diese Beobachtungen abschließen.«
»Gibt es etwas Neues?« Selbst Onell konnte seine Neugier nicht verbergen. Alicia hatte sich gleich zu Anfang entschieden, keine regelmäßigen Lageberichte herauszugeben.
»Wir sind noch am Erfassen.« Der Satz gefiel ihr, denn ›erfassen‹ konnte auch im Sinne von ›begreifen‹ verwendet werden, und das traf die Sachlage ziemlich genau.
Am späten Nachmittag betrat sie ihr Büro. Es war ein glühend heißer Tag, und im Physikgebäude war es sehr viel kühler als in der drangvollen Enge des Observatoriums. Sie hatte ihren Schreibtisch seit einer Woche nicht mehr gesehen, und sie sah ihn auch jetzt nicht; er war unter Briefen und Päckchen vergraben. Seit dem Entführungsversuch kontrollierte die UCI alle Pakete, für den Fall, daß sie eine Bombe enthielten. Der Fachbereich nahm auch keine Anrufe mehr für sie an, sie rief ohnehin nie zurück. Sie hatte bald entdeckt, daß die jüngste Generation von Sensationsjournalisten keine Hausaufgaben machte, sondern das Telefon als wichtigstes Instrument der Recherche ansah. Ihre E-Mail-Adresse hatte sie geändert, und die neue kannten nur Brookhaven, Max, Dad und Bernie Ross; was nicht heißen sollte, daß sie regelmäßig in ihre Mailbox geschaut hätte.
Vollends aus der Schußlinie war sie damit nicht. Bernie erledigte das meiste für sie, aber vor einigen Ausschüssen mußte sie schon deshalb persönlich erscheinen und erklären, was sie vorhatte, um weitere Mittel zu bekommen. Der Vizekanzler des Bereichs Forschung hatte sie unterstützt und ihr auch die bewaffnete Wache bewilligt. Um das zu erreichen, hatte sie sich von ihr ein paar neue Tricks im Umgang mit akademischen Ausschüssen beibringen lassen. So holte sie seither in der Mitte eines Satzes Atem. Dadurch wurde es möglich, sich nach der zweiten Hälfte gleich weiter in den nächsten Satz zu stürzen, ohne der lauernden Gegenseite die Chance zu einem Einwurf zu geben. In gewisser Weise machte das sogar Spaß, aber etwa so, als ginge man nur deshalb zu einer Sportveranstaltung, weil man gerne Hot Dogs aß.
Als Alicia ins Büro des Fachbereichsvorsitzenden kam, erkundigte sich Onell noch einmal, womit sie sich gerade beschäftige. Sie wich der Frage aus und ging auch auf die alte Leier wegen der Ausschußsitzungen nicht ein. Onell lehnte sich mit halbgeschlossenen Lidern zurück, sein Gesicht wurde ausdruckslos. Sie stellte mechanisch fest, daß sein glattrasiertes Doppelkinn sich über einem noblen Baumwollhemd wölbte, das perfekt zu seinem grauen Kammgarnjackett paßte. Selbst wenn er sich in seinen Chefsessel lümmelte, wirkte er wie aus dem Ei gepellt.
Zunächst bemerkte er ganz allgemein, alle Physiker wüßten es zu schätzen, wenn jemand sich mit normalen Forschungsprojekten begnüge. Sie verstand nicht gleich, was das mit ihr zu tun hatte, doch dann begriff sie, daß er auf den Cosm anspielte. Weiterhin ließ erdurchblicken, die
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