Cosm
Humor kam man nicht weiter, Ironie verbot sich von selbst. Die wirklichen Fanatiker pirschten sich zunächst behutsam an das Thema heran, um dann bei der kleinsten, spöttischen Bemerkung sofort umzuschalten und Alicia Hybris (wobei das Wort selbst offenbar keiner kannte) und gotteslästerliche Überheblichkeit vorzuwerfen. In solchen Fällen setzte sie ihren Stock ein.
Eine Untergattung dieser Kategorie sah in einem schnellen Hinauswurf den Beweis dafür, daß Alicia sich die fremden Ideen widerrechtlich aneignen wollte. So überreichte ihr ein dicker Mann aus Encinitas zunächst voller Stolz seine in rotes Leder gebundene Abhandlung über das ›Giga-Universum‹, nur um ihr das Buch im nächsten Moment wieder aus den Händen zu reißen und sie anzugeifern, er traue ihr jederzeit zu, dieses großartige Werk unter ihrem Namen zu veröffentlichen, ohne ihn gebührend zu würdigen.
Die meisten meldeten sich telefonisch – und das nahm bald so Überhand, daß Alicia nur noch im Labor an den Apparat ging. Besucher wurden von den Fachbereichsangestellten auf Herz und Nieren geprüft; Jim, der vorne am Empfang stand, wurde von einem besonders hitzköpfigen Fremden sogar in einen Faustkampf verwickelt.
Zum Dank lud Alicia ihn zum Mittagessen ein. »Unglaublich, wie viele es sind«, staunte er. »Und alle lesen sie diese Schmierblätter.« Ja, und alle hielten sie den Augenschein für den einzigen Wahrheitsbeweis und glaubten an die Überlegenheit der Ausnahmeerscheinung, denn als solche galt der Cosm. Das Weltbild des Wissenschaftlers, das auf einem dichten Netz von Erfahrungen und logischen Schlußfolgerungen beruhte, war ihnen fremd.
Am meisten amüsierten Alicia diejenigen, die erst wiederholt versuchten, zu ihr vorzudringen, und, wenn es ihnen endlich gelungen war, würdevoll erklärten,wenn sie nicht genügend Zeit erübrigen könne, um sich ihre Ideen anzuhören und ihnen natürlich das Experiment zu zeigen, sähen sie sich leider gezwungen, ihre Geheimwaffe einzusetzen und sich ans Fernsehen zu wenden. Nicht nur, daß diese Menschen das Fernsehen als oberste Instanz der Wahrheitsfindung betrachteten, sie hatten auch miterlebt, wie dieses Medium Alicia eine vorübergehende Berühmtheit verschaffte. Da würde sie doch sicher nicht riskieren, vom durchdringenden Blick der Kameras vernichtet zu werden?
Alicias Kollegen empfanden die Pilgerscharen zunächst als komisch und rissen beim Nachmittagskaffee ihre Witze darüber, doch es dauerte nicht lange, bis sie sich belästigt fühlten. Einige ergötzten sich noch eine Weile an ihren Geschichten über die seltsamen Theorien und die Unberechenbarkeit ihrer unerwünschten Besucher, doch nach ein paar Wochen lachte niemand mehr. Die konservativeren Professoren fanden diese Art von Interesse unpassend und zeigten Alicia mit ihren finster dräuenden Blicken auch ganz deutlich, wen sie dafür verantwortlich machten.
3 Am folgenden Nachmittag fiel Alicia auf, daß sich der Cosm verändert hatte. Sie war dabei, mit Zak routinemäßig einige der optischen Diagnostiken auszuwechseln, und als sie zwischen die Magnetpole griff, um eine Zuleitung zurechtzubiegen, sah sie plötzlich, daß die Kugel schwarz war.
»Du meine Güte!« sagte sie nur.
»Er ist durchsichtig geworden«, flüsterte Zak.
Er wirkte auch ein wenig kleiner. Zak traten fast die Augen aus dem Kopf. Die Oberfläche glänzte nicht mehr wie ein Spiegel, sondern war obsidianschwarz mit vereinzelten, körnigen Flecken. Es dauerte einige Minuten, den Wald von Geräten, der die Kugel fast völligverdeckte, vorsichtig wegzuziehen. Nun konnte sie im tiefen Schwarz schwach leuchtende Reflexe erkennen.
»Die Zeit verschwimmt«, sagte Zak. »Wir sehen ins Innere!«
»Warum?«
»Wie Sie schon sagten, der Verlust an Masse könnte bedeuten, daß der Cosm durchlässiger wird.«
Hastig rechnete Alicia im Kopf nach. »Wenn Max’ Zeitgleichung noch gilt … Wow, inzwischen vergehen für jede Sekunde bei uns am anderen Ende Jahrhunderte.«
Das Problem war noch immer nicht gelöst. Seit das Urlicht erloschen war und die Raumzeit des Cosm expandierte, gab es am anderen Ende keine zuverlässige Uhr mehr. Max hatte nach einer Möglichkeit gesucht, die komplizierten Dopplerverschiebungen in den Sternenspektren, die sie von der anderen Seite auffingen, zur Zeitmessung zu nützen. Aber eine einfache Hubble-Verschiebung, nach der sich die Geschwindigkeit der Expansion hätte bestimmen lassen, gab es offenbar nicht. Max
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