Cosm
kleine Stammesverbände. In Brookhaven hatte jede Detektorgruppe ihre eigene Kaffeemaschine; ging eine Maschine kaputt, dann ließ man sich nicht etwa von einer anderen Gruppe mitversorgen, sondern wartete zähneknirschend auf die Reparatur. Alicia kam ungewöhnlich viel im Labor herum, weil sich die Umstellung von Gold auf Uran auf alle Bereiche des Colliders auswirkte, und sie hatte nicht nur einmal erlebt, daß jemand sich bei ihr erkundigte, wie es den anderen ergehe und ob sich etwas Neues getan habe – obwohl die Gruppen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt arbeiteten.
Doch jetzt kamen Physiker und Techniker aus den Teams der STAR-, PHENIX- und PHOBOS-Detektoren auf sie zu, um ihr zu versichern, wie sehr sie den Verlust des Core-Element bedauerten. »Eine unbegreifliche Geschichte«, »Was kann da nur passiert sein, haben Sie eine Erklärung?« was man in solchen Situationen eben sagte. Sie nickte nur. Die Leute meinten es gut, aber sie war viel zu ungeduldig, um ihnen richtig zuzuhören.
Sie seufzte. Hier ging es zu wie in einem Taubenschlag, wie sollte man da eine Diagnostik aufbauen, ohne Aufsehen zu erregen? Und wie ging man überhaupt an die Diagnose heran? Sie brauchte ein ruhiges Labor, wo sie ungestört nachdenken konnte. Brookhaven war eine Fabrik. Hier konnte man Elementarteilchen zwar erzeugen, aber eingehend studieren mußte man sie anderswo.
Vielleicht haben wir ein wirklich großes Teilchen entdeckt, schoß es ihr durch den Sinn, ein Bigon . Ein Partikel so groß wie ein menschlicher Kopf – das man nur in die Hand zu nehmen brauchte, um es genau betrachten zu können. Keine komplizierten Mikrochips, keine umständlichen Abbildungsverfahren mehr.
So hatte die Physik noch vor ein- bis zweihundert Jahren gearbeitet. Hertz hatte zur Messung seiner Wellen sein Labor abgeschritten, weil sie nämlich so lang waren wie sein Arm. Roentgen hatte zur Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen nur ganz gewöhnliche, fotografische Platten und einen stählernen Briefbeschwerer gebraucht. Vielleicht war so ein Bigon genau das, was der Elementarteilchenphysik noch fehlte.
»Hoffentlich ist das Feld stark genug«, hörte sie Zaks hinter sich sagen.
»Äh, wie läuft der Versuch?« Der Rest von BRAHMS funktionierte nach wie vor; das Core-Element war nur ein spezielles, eigens für Uran entwickeltes Instrument gewesen.
»Das Spektrometer für den mittleren Geschwindigkeitsbereich registriert jede Menge Kollisionen.«
»Großartig.« Sie hatten den ganzen Nachmittag damit verbracht, die Reste des Core-Element aus dem BRAHMS zu entfernen. Während der nächsten Monate, bis die Schäden am Detektor behoben waren, mußten sie sich damit begnügen, die kompakten Wolken aus subnuklearen Teilchen mit Hilfe der Daten zu analysieren, die sie in den ersten paar Stunden gespeichert hatten.
»Wie stark ist das Feld da drin, ein halbes Tesla?« Zak vergewisserte sich mit einem Blick auf die Seitenfläche des Dauermagneten, wo die Feldstärke aufgedruckt war. »Richtig. Hoffentlich reicht das.«
»Um die Kugel zu halten? Mal sehen …« Rasch warfsie ein paar Zeilen auf ihr Clipboard. Die Stärke des Magnetfelds multipliziert mit dem Querschnitt der Kugel mußte einen höhen Wert ergeben als die Beschleunigung durch die Schwerkraft, also … »Kein Problem, solange sie nicht mehr als hundert Kilo wiegt.«
»Wenn sie aus Stahl ist, kann man davon wahrscheinlich ausgehen.«
»Bisher hängt sie jedenfalls ruhig«, sagte sie. Mochte er ruhig bei seiner Meinung bleiben.
Zak rümpfte die Nase. »Wonach riecht es hier?«
»Ozon, vermutlich von den Funkenstrecken da drüben.«
»Hm. Übrigens, haben Sie schon von der Anhörung beim Sicherheitsausschuß erfahren?«
Sie erstarrte. »Äh … nein. Wann?«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In etwa zwei Stunden. Haben Sie denn Ihre E-Mail nicht abgerufen?«
Das geborstene Röhrensegment lag zwischen ihr und Zak und dem Sicherheitsausschuß auf dem Tisch und wirkte in der nüchternen Atmosphäre des neonbeleuchteten Konferenzraums fast wie eine Leiche vor der Obduktion.
Die Formalitäten wurden systematisch abgewickelt. Beschreibung der Verfahrenstechnik, Beweisaufnahme, Unmengen von kleinen Manövern, um möglichst schon im Vorfeld alle Schuld abzuwälzen. Sie hatte Magenschmerzen, aber sie gab ihrer Unsicherheit nicht nach und vermied es vor allem, zuviel zu reden – normalerweise ihr größter Fehler. Solange niemand die Kugel bemerkt hatte …
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