Cosmopolis
Bewegung war ringsum spürbar. Er fühlte die Präsenz der Körper, ohne Ausnahme, den Körperatem, die Hitze und das fließende Blut, Menschen, keiner wie der andere, und doch einander gleich, jetzt, angesammelt, aufgehäuft geradezu, lebendig und tot miteinander. Sie waren nur Statisten einer Massenszene, in befohlener Unbeweglichkeit, aber es war ein starkes Erlebnis, so absolut und offen, dass ihm kaum ein Gedanke außerhalb davon gelang.
»Hallo«, sagte jemand.
Es war die Person, die ihm am nächsten lag, eine Frau, das Gesicht zum Boden, einen Arm ausgestreckt, Handfläche nach oben. Ihr Haar war hellbraun oder braunblond. Vielleicht war es auch falb. Was ist falb? Ein gräuliches Sandbraun, in Richtung mäßiges Rostbraun. Oder helles Fuchsbraun. Fuchs klang besser.
»Sollen wir tot sein?«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Keiner hat es uns gesagt. Das frustriert mich.«
»Na, dann sei doch tot.«
Die Lage ihres Kopfes zwang sie dazu, in den Straßenbelag hineinzusprechen, wodurch ihre Worte gedämpft klangen.
»Ich habe absichtlich eine unbequeme Pose eingenommen. Was immer mit uns passiert ist, dachte ich, ist wahrscheinlich ohne Vorwarnung passiert, und ich wollte das abbilden, indem ich meine Figur individuell gestalte. Der eine Arm ist komplett verdreht, das tut weh. Aber ich fände es nicht richtig, meine Position zu verändern. Jemand hat gesagt, die Finanzierung wäre zusammengebrochen. Anscheinend in Sekundenschnelle. Alles Geld weg. Das hier ist die letzte Szene, die sie drehen, bevor sie auf unbestimmte Zeit unterbrechen. Also gibt es keine Entschuldigung dafür, sich gehen zu lassen, oder?«
Hatte Elise nicht fuchsbraunes Haar? Er konnte das Gesicht der Frau nicht sehen und sie das seine nicht. Aber er hatte gesprochen, und sie hatte ihn eindeutig gehört. Falls es Elise war, würde sie da nicht auf den Klang der Stimme ihres Mannes reagieren? Andererseits, warum eigentlich? War nicht besonders interessant, das zu tun.
Das Rumpeln eines Lkws irgendwo trommelte auf seiner Wirbelsäule.
»Aber ich vermute, wir sind eigentlich nicht tot. Es sei denn, wir sind eine Sekte«, sagte sie, »die Massenselbstmord begangen hat, was ich aber nicht hoffen will.«
Eine Stimme rief über Verstärker: »Augen zu, Leute. Kein Laut, keine Bewegung.«
Nun filmten sie von oben, die Kamera sank langsam tiefer, und er schloss die Augen. Jetzt, wo er wie alle nichts mehr sah, nahm er die Körpercluster wahr, als wäre er die Kamera, kalt. Taten sie so, als wären sie nackt, oder waren sie nackt? Das war ihm nicht mehr klar. Es gab Hautfarben in vielen Schattierungen, aber er sah sie in schwarz-weiß, und er wusste nicht, warum. Vielleicht brauchte eine solche Szene nüchternes Monochrom.
»Kamera läuft«, rief eine andere Stimme.
Der Kopf platzte ihm schier von dem Versuch, sie sich alle in Wirklichkeit vorzustellen, unabhängig von ihrem Anblick auf einem Bildschirm in Oslo oder Caracas. Oder gab es keinen Unterschied zwischen hier und dort? Aber wozu diese Fragen stellen? Wozu diese Dinge sehen? Das isolierte ihn. Das sonderte ihn aus, und das wollte er nicht. Er wollte hier unter ihnen sein, ganz Körper, wie die Tätowierten, die behaarten Ärsche, die Stinkenden. Er wollte in der Mitte der Kreuzung sein, unter den Alten mit ihren erhabenen Adern und Körperflecken und neben dem Zwerg mit der Beule am Kopf. Er dachte, wahrscheinlich waren hier auch Leute mit verheerenden Krankheiten, ein paar, unbeirrbar, denen die Haut wegschilferte. Und die Jungen und Starken. Er gehörte zu ihnen. Er gehörte zu den krankhaft Fettleibigen, den Gebräunten und Trainierten und denen im mittleren Alter. Er dachte an die Kinder, so feierlich und feinknochig in der unbedingten Schönheit ihres Rollenspiels. Er gehörte dazu. Da waren diejenigen, deren Kopf an den Körpern anderer ruhte, an Brust oder Achselhöhle, für welches säuerliche bisschen Zuflucht auch immer. Er dachte an diejenigen, die auf dem Rücken lagen, mit ausgebreiteten Flügeln, offen zum Himmel, Genitalien in der Weltenmitte. Da war eine dunkle Frau mit einem kleinen roten Zeichen auf der Mitte der Stirn, für Zuversicht. War da ein Mann mit einem fehlenden Körperteil, einem tapferen, knotigen Stumpf unterm Knie? Wie viele Körper mit Operationsnarben? Und wer ist das Mädchen mit Dreadlocks, in sich zusammengerollt, fast völlig in ihren Haaren verloren, nur die rosa Zehen schauen hervor? Er wollte sich umsehen, schlug aber die Augen nicht auf,
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