Cotton Malone 04 - Antarctica
Thron stand auf einer behauenen Marmorplatte, und seine drei sichtbaren Seiten waren reich mit Reliefs verziert. Männer. Pferde. Ein Streitwagen. Ein zweiköpfiger Höllenhund. Frauen mit Blumenkörben. All das war römisch. Otto hatte andere prächtige Beispiele dieser Art in Italien gesehen. Dass hier, in einem christlichen Grab, so etwas zu finden war, nahm er als Zeichen, dass seine Vision für das Reich richtig war.
Auf einer Seite ruhten ein Schild und ein Schwert. Er wusste, was es mit dem Schild auf sich hatte. Am Tag von Karls des Großen Kaiserkrönung vor zweihundert Jahren hatte Papst Leo es persönlich geweiht. Es war mit dem königlichen Siegel geschmückt. Otto hatte das Zeichen auf Dokumenten in der kaiserlichen Bibliothek gesehen.
Otto stand auf.
Einer der Gründe, weshalb er gekommen war, waren Zepter und Krone, wobei er nicht erwartet hatte, etwas anderes vorzufinden als die blanken Gebeine.
Doch die Lage hatte sich geändert.
Er entdeckte gebundene Seiten, die auf dem Schoß des Kaisers ruhten. Behutsam näherte er sich dem Herrschaftspodium und erkannte illuminiertes Pergament, dessen Schrift und Buchmalerei verblasst, aber immer noch lesbar waren. »Kann einer von euch Lateinisch lesen?« , fragte er.
Einer der Bischöfe nickte, und Otto winkte ihn heran. Zwei Finger der behandschuhten linken Hand des Leichnams zeigten auf einen Abschnitt der Seite.
Der Bischof studierte die Seite mit schief gelegtem Kopf. »Es ist das Markusevangelium. «
»Lest vor. «
»Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden. «
Otto sah auf den Leichnam. Der Papst hatte ihm gesagt, die Herrschaftssymbole von Carolus Magnus seien die idealen Werkzeuge, um den Glanz des Heiligen Römischen Reiches wieder erstehen zu lassen. Nichts umgab Macht mit einer stärkeren Aura als die Vergangenheit, und Otto hatte in diesem Moment eine großartige Vergangenheit vor Augen. Einhard hatte Karl den Großen als reckenhaft beschrieben, als athletisch und breitschultrig, mit einer Brust so mächtig wie ein Ross, als dunkelblond und von gesunder Gesichtsfarbe, als ungewöhnlich rührig und unermüdlich, als Mann, dessen Energie und Herrschaftsgröße selbst im Zustand der Ruhe wie jetzt den eingeschüchterten Beobachter zutiefst beeindruckten. Jetzt endlich verstand Otto, wie wahr diese Worte waren.
Der andere Zweck seines Besuchs kam ihm in den Sinn.
Er sah sich in der Krypta um.
Seine Großmutter, die vor einigen Monaten gestorben war, hatte ihm die Geschichte weiter gegeben, die sein Großvater, Otto I., ihr erzählt hatte. Es ging um etwas, das nur Kaiser wussten. Nämlich darum, dass Carolus Magnus angeord net hatte, bestimmte Dinge mit ihm zusammen zu bestatten. Viele Menschen wussten vom Schwert, dem Schild und dem Splitter vom Kreuz Jesu. Der Abschnitt aus dem Markusevangelium war dagegen eine Überraschung.
Dann sah er es. Den eigentlichen Grund seines Kommens. Es lag auf einem Marmortisch.
Er trat näher, reichte von Lomello die Fackel und sah auf ein kleines, staubbedecktes Buch. In den Buchdeckel war ein Symbol eingeprägt, das seine Großmutter ihm beschrieben hatte.
Behutsam schlug er das Buch auf. Auf den Seiten sah er Symbole, sonderbare Zeichnungen und eine nicht zu entziffernde Schrift.
»Was ist das, Majestät?« , fragte von Lomello. »Was ist das für eine Sprache?«
Normalerweise hätte Otto eine solche Frage nicht zugelassen. Kaiser akzeptierten keine Fragen. Aber die Freude, dass er das Buch, von dessen Existenz seine Großmutter ihm erzählt hatte, tatsächlich gefunden hatte, erfüllte ihn mit unermesslicher Erleichterung. Der Papst war der Meinung, Krone und Zepter vermittelten Macht, aber wenn man Ottos Großmutter Glauben schenken konnte, waren diese eigenartigen Worte und Symbole sogar noch mächtiger. Und so gab er dem Grafen die Antwort, die er damals von ihr erhalten hatte:
»Dies ist die Sprache des Himmels. «
Malone hörte skeptisch zu.
»Es heißt, Otto hätte der Leiche die Fingernägel geschnitten, ihr einen Zahn gezogen und die Nasenspitze durch Gold ersetzen lassen, bevor er das Grab wieder versiegelte.«
»Sie klingen so, als würden Sie diese Geschichte nicht glauben«, sagte er.
»Jene Zeit hieß nicht umsonst das dunkle Zeitalter. Wer will das schon so genau wissen?«
Auf der letzten Seite des Buches erkannte er dasselbe Zeichen, das Frau Lindauer in Zusammenhang mit dem Schild beschrieben hatte – eine
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