Cotton Malone 04 - Antarctica
die Wände sind wie ein steinerner Mosaikboden. Die Decke ist wie der Pfad der Sterne. Hitze entweicht den Wänden, Angst überkommt mich und ich zittere. Ich werfe mich auf mein Gesicht und sehe einen erhabenen Thron, der so durchscheinend ist wie die leuchtende Sonne. Dort sitzt der Hohe Ratgeber, und sein Gewand leuchtet heller als die Sonne und ist weißer als jeder Schnee. Der Hohe Ratgeber sagt mir: »Einhard, du rechtschaffener Schreiber, trete zu mir und höre meine Stimme.« Er spricht zu mir in meiner Sprache, was mich erstaunt. »So wie ER den Menschen geschaffen und ihm die Fähigkeit gegeben hat, die Worte der Weisheit zu verstehen, so hat ER auch mich geschaffen. Willkommen in unserem Land. Ich höre, dass du ein gelehrter Mann bist. Dann kannst du die Geheimnisse der Winde sehen – wie sie geteilt werden, um über die Erde zu wehen – und die Geheimnisse der Wolken und des Taus. Wir können dich über die Sonne und den Mond unterrichten, woher sie kommen, wohin sie gehen und woher sie so glorreich wiederkehren, wir können dir berichten, wie die eine dem anderen übergeordnet ist, und dir erklären, wie sie ihre erhabenen Kreisbahnen ziehen und dass sie ihre Kreisbahn nicht verlassen – sie fügen ihr nichts hinzu und nehmen ihr nichts weg, und sie halten einander die Treue, getreu dem Schwur, der sie aneinander bindet.«
Malone hörte zu, wie Christl Falk den lateinischen Text übersetzte, und fragte dann: »Wann wurde das geschrieben?«
»Zwischen 814, als Karl der Große starb, und 840, Einhards Todesjahr.«
»Das ist unmöglich. Es ist die Rede von Kreisbahnen der Sonne und des Mondes und davon, dass sie miteinander verbunden sind. Diese astronomischen Vorstellungen gab es damals doch noch gar nicht. Das wäre Häresie gewesen.«
»Da haben Sie recht, so weit es um die Bewohner Westeuropas geht. Aber für Menschen an anderen Orten des Planeten, die nicht durch die Kirche eingeschränkt waren, sah die Sache anders aus.«
Er war noch immer skeptisch.
»Lassen Sie mich die Sache historisch einordnen«, sagte sie. »Die beiden älteren Söhne Karls des Großen starben beide vor ihm. Sein dritter Sohn, Ludwig der Fromme, erbte das Karolingerreich. Ludwigs Söhne kämpften mit ihrem Vater und untereinander. Einhard diente Ludwig so treu, wie er Karl dem Großen gedient hatte, hatte aber schließlich den Familienzwist so satt, dass er sich vom Hof zurückzog und den Rest seiner Tage in einer Abtei verbrachte, die Karl der Große ihm geschenkt hatte. Während dieser Zeit schrieb er seine Biografie Karls des Großen und« – sie hob das alte Buch hoch – »dieses Buch hier.«
»Ein Bericht über eine großartige Reise?«, fragte er.
Sie nickte.
»Wer kann sagen, dass das real ist? Es klingt wie reine Fantasie.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sein Leben Karls des Großen ist eines der berühmtesten Werke aller Zeiten. Es ist bis heute im Druck. Einhard war nicht dafür bekannt, dass er Romane schrieb, und er hat sich sehr viel Mühe gegeben, diesen Text hier zu verstecken.«
Malone war noch immer nicht überzeugt.
»Wir wissen viel über die Taten Karls des Großen«, sagte sie, »aber wenig über seine inneren Überzeugungen. Darüber sind keine verlässlichen Berichte erhalten. Wir wissen allerdings, dass er alte Erzählungen und epische Dichtung liebte. Vor seiner Zeit wurden Mythen nur mündlich überliefert. Er war der Erste, der sie aufschreiben ließ. Wir wissen, dass Einhard diese Bemühungen beaufsichtigte. Aber nachdem Ludwig den Thron geerbt hatte, zerstörte er all diese Texte wegen ihres heidnischen Inhalts. Die Vernichtung dieser Schriften muss Einhard mit Abscheu erfüllt haben, und so sorgte er dafür, dass zumindest dieses Buch hier erhalten blieb.«
»Indem er es teilweise in einer Sprache verfasste, die keiner verstand?«
»So ungefähr.«
»Ich habe Darstellungen gelesen, denen zufolge Einhard möglicherweise nicht einmal die Biografie Karls des Großen selbst verfasst hat. Es gibt kein gesichertes Wissen.«
»Mr. Malone …«
»Nennen Sie mich doch Cotton. Ich fühle mich sonst so alt.«
»Interessanter Name.«
»Ich mag ihn.«
Sie lächelte. »Ich kann Ihnen das alles viel detaillierter erklären. Mein Großvater und mein Vater haben Jahre mit Nachforschungen zugebracht. Es gibt Dinge, die ich Ihnen zeigen und erklären muss. Danach werden Sie mir gewiss zustimmen, dass unsere Väter nicht umsonst gestorben sind.«
Obgleich ihre Augen die Bereitschaft
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