Cotton Malone 04 - Antarctica
vergangenen Jahrzehnts hatte sie ihm sein ewiges Gejammer zunehmend übelgenommen sowie seine völlige Unfähigkeit, sich einmal für etwas anderes als seinen eigenen Vorteil zu interessieren. Sein einziger Pluspunkt war seine Liebe zu ihrem gemeinsamen Sohn Georg gewesen. Doch Georgs Tod vor fünf Jahren hatte eine breite Kluft zwischen ihnen aufgerissen. Werner war am Boden zerstört gewesen, genau wie sie selbst, doch sie waren mit ihrer Trauer unterschiedlich umgegangen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Er war wütend geworden. Seit damals hatte sie einfach ihr Leben gelebt und ihn das seine leben lassen, ohne dass einer sich dem anderen verantwortlich fühlte.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich bin deinetwegen gekommen.«
Sie war nicht in der Stimmung für seine Mätzchen. Gelegentlich hatte er versucht, ein richtiger Mann zu sein, doch das war mehr eine vorübergehende Laune als eine grundlegende Veränderung gewesen.
»Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?«, fragte sie.
»Captain Sterling Wilkerson hat es mir gesagt.«
Aus ihrem Schreck wurde Entsetzen.
»Ein interessanter Mann«, sagte er. »Hält man ihm eine Pistole an den Kopf, kann er gar nicht mehr mit Reden aufhören.«
»Was hast du getan?«, fragte sie, ohne ihr Erstaunen zu verhüllen.
Sein Blick heftete sich auf sie. »Sehr viel, Dorothea. Wir dürfen unseren Zug nicht verpassen.«
»Ich fahre nicht mit dir weg.«
Werner schien einen Moment der Verärgerung zu unterdrücken. Vielleicht hatte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem aufmunternden Lächeln, das ihr tatsächlich Angst einjagte. »Dann wirst du den von deiner Mutter angeregten Wettkampf mit deiner lieben Schwester verlieren. Ist dir das egal?«
Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er auf dem Laufenden war. Schließlich hatte sie ihm nichts erzählt. Doch ihr Mann war eindeutig gut informiert.
Schließlich fragte sie: »Wohin fahren wir?«
»Zu unserem Sohn.«
Stephanie sah dem davonfahrenden Edwin Davis nach. Dann stellte sie ihr Handy stumm, knöpfte ihren Mantel zu und marschierte in den Wald. Alte Nadelbäume und kahle Laubbäume, viele mit Misteln in der Krone, ragten über ihr auf. Der Winter hatte das Unterholz kaum ausgedünnt. Langsam kehrte sie die hundert Meter zum Haus zurück; ein dicker Nadelteppich verschluckte ihre Schritte.
Sie hatte gesehen, wie sich der Kleiderbügel bewegt hatte. Kein Zweifel. Irrte sie sich oder hatte sich wirklich jemand im Inneren des Schranks befunden und einen Fehler begangen?
Oft genug forderte sie ihre Agenten auf, ihren Instinkten zu vertrauen. Mit nichts kam man weiter als mit dem gesunden Menschenverstand. Cotton Malone war darin ein Meister gewesen. Sie fragte sich, was er im Moment wohl tat. Er hatte sie nicht wegen ihrer Information über Zachary Alexander und den restlichen Führungsstab der Holden zurückgerufen.
Ob er ebenfalls mit Problemen kämpfte?
Das Haus tauchte auf, halb verborgen von den vielen Bäumen, die noch davor standen. Sie kauerte sich hinter einen der Stämme.
Wie gut jemand auch immer sein mochte, irgendwann machte er einen Fehler. Der Trick bestand darin, dann zur Stelle zu sein. Falls Davis recht hatte, waren Zachary Alexander und David Sylvian von jemandem ermordet worden, der die gewaltsame Todesursache perfekt zu kaschieren verstand. Und auch wenn Davis bezüglich Millicents Tod keinen Verdacht geäußert hatte, hatte sie sein Misstrauen doch gespürt.
Herzstillstand.
Auch Davis hatte so ein Gefühl.
Der Kleiderbügel.
Er hatte gewackelt.
Und sie hatte klugerweise nicht darüber gesprochen, was sie im Schlafzimmer gesehen hatte, sondern beschlossen, abzuwarten, ob Herbert Rowland wirklich als Nächster an der Reihe war.
Die Haustür ging auf, und ein kleiner, schmaler Mann in Jeans und Stiefeln trat heraus.
Er zögerte, ging dann los und verschwand, von Schatten verdunkelt, im Wald. Stephanies Herz raste. Der Drecksack.
Was hatte er da drinnen getan?
Sie griff nach ihrem Handy und rief Davis an, der schon nach dem ersten Läuten abnahm.
»Sie hatten recht«, erklärte sie.
»Womit?«
»Mit dem, was Sie über Langford Ramsey gesagt haben. Alles stimmt. Absolut alles.«
TEIL DREI
38
Aachen
18.15 Uhr
Malone folgte der Führung zurück in das zentrale Oktogon von Karls des Großen Pfalzkapelle. Drinnen war es gut zwanzig Grad wärmer als draußen, und er war dankbar, der Kälte entronnen zu sein. Die
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