Couchgeflüster
Mama mich oft wie mit der Lupe betrachtet. Das hätte ich mir aber wohl sparen können, denn sie scheint ganz andere Sorgen zu haben.
«Ähm, ja … also, deine Brille …», stottere ich, weil ich die natürlich absichtlich vergessen habe. Um ehrlich zu sein, brauche ich sie fürs Therapeutinnengefühl. «Ich habe das ganzeHaus abgesucht, ehrlich, konnte sie aber nirgendwo finden», schwindle ich und merke, dass mein Augenlid zuckt.
Ohne ihre Brille wird Mama das aber nicht bemerken.
«Sehr mysteriös», schnauft sie kopfschüttelnd. «Ich bin mir ganz sicher, sie zuletzt auf meinem Schreibtisch gesehen zu haben.»
Zweifelnd ziehe ich die Augenbrauen hoch. «Tatsächlich? Ich meine, in der ganzen Aufregung wäre es doch nicht verwunderlich, wenn du dich nicht so genau erinnern könntest, oder?»
«Papperlapapp», wischt Mama meinen Einwand mit einer Geste weg. «Ich leide doch nicht unter Amnesie! Apropos …» Sie stockt, als erwarte sie einen überfälligen Bericht. «Ist in der Praxis alles in Ordnung?»
«Ähm, ja, natürlich», erwidere ich leicht entrüstet und stelle schnell die Blumen ins Wasser, um abzulenken. Anschließend platziere ich die Vase auf dem kleinen Kaffeetisch und ziehe mir einen der beiden Besucherstühle an Mamas Bett.
«Hast du auch allen Patienten absagen können?», bohrt sie weiter nach.
«Ja, ja, alles erledigt», antworte ich ausweichend und zwirble eine Haarsträhne um meinen Finger.
Doch wie befürchtet ist meine Mutter damit nicht zufrieden. «Wie hat denn dieser … Ach, ich komm jetzt nicht auf den Namen. Die retrograde Amnesie, also, wie hat dieser Patient auf die Absage reagiert?»
«Ach, mach dir keine Sorgen», beruhige ich sie. «Ich hab alles im Griff.»
Skeptisch zieht Mama die Augenbrauen hoch. Offensichtlich glaubt sie mir kein Wort.
«Ehrlich», betone ich und behaupte: «Er hat versprochen, sich an Tante Tessa zu wenden, wenn es ihm schlechter geht.» Und dann fällt mir eine Möglichkeit ein, wie ich Mama noch zu Bens Krankheitsbild ausquetschen kann. «Allerdings könnte es natürlich auch sein, dass er es vergisst», sage ich. «Immerhin leidet er doch an Amnesie, oder nicht?»
«Retrograde Amnesie», verbessert sie mich.
«Und worin besteht der Unterschied?» Interessiert beuge ich mich vor.
«Totale Amnesie bedeutet den kompletten Gedächtnisverlust. Die Patienten vergessen, wer sie sind, wo sie arbeiten und ob sie verheiratet sind. Einfach alles. Oft vergessen sie sogar ihre Namen. Es ist der totale Blackout.» Sie richtet sich auf. «Patienten mit retrograder Amnesie dagegen fehlt nur die Erinnerung für einen bestimmten Zeitraum. Wobei dieses
nur
im Einzelfall natürlich als äußerst quälend erlebt werden kann. Auslöser ist im Regelfall ein Schädel-Hirn-Trauma. Genaueres lässt sich jedoch erst nach eingehender Kenntnis des jeweiligen Falls beurteilen», doziert Mama mit funkelnden Augen.
Mist, das weiß ich doch schon alles.
«Das ist ja hochspannend», sage ich ehrfürchtig und starte einen neuen Versuch, Mama zu weiteren Ausführungen zu bewegen. «Hast du nicht ein Beispiel parat?»
An ihrer erfreuter Miene erkenne ich, dass sie den Köder geschluckt hat. Sie liebt es, über Psychotherapie und Krankheitsbilder zu referieren.
«Nun», beginnt sie lächelnd. «Nehmen wir einen leidenschaftlichen Radsportler … Da er seine gesamte Freizeit seinem Sport widmet, wird er von seiner großen Liebe verlassen, weil die Freundin sich verständlicherweise vernachlässigtfühlt. Direkt nach der Trennung stürzt er beim Training, erleidet eine Kopfverletzung – respektive ein Schädel-Hirn-Trauma – und kann sich daraufhin nicht mehr an die Frau erinnern. Auch nicht an ihren Namen, wie sie aussah und alles, was mit ihr zusammenhing.»
«Ach», schnaufe ich. «Dann kann er in Zukunft seinem Sport also ohne schlechtes Gewissen frönen?»
«Ganz so einfach ist es nicht», erklärt sie. «Unser Sportler wird in Zukunft nämlich keine Freude mehr an seiner Leidenschaft empfinden. Jedes Mal, wenn er aufs Rad steigt, überkommt ihn schlechte Laune bis hin zur Depression. Aber er kann sich nicht erklären, wie es zu diesem plötzlichen Sinneswandel kommt, weil er die Frau ja vergessen hat.»
«Puh, das ist ja ganz schön tragisch», murmele ich. «Und was passiert, wenn dieser Sportler nochmal stürzt? Käme sein Erinnerungsvermögen dann zurück?»
«Derartige Studien sind mir nicht bekannt. Wäre schön, wenn es so einfach ginge»,
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