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CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)

CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)

Titel: CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martyn Bedford
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Flip auch die Achseln gezuckt hätte. Wahrscheinlich hätte Flip sogar darauf
bestanden
, mit geplatzter Oberlippe weiterzuspielen, ganz egal, was Mr Yorath dazu sagte.
    »Wo ist dein Hemd?«
    »Im Wäschekorb.«
    »Meine
Güte
!« Die Mutter tat übertrieben erschrocken. »Du hast seit Menschengedenken nichts mehr in den Wäschekorb geworfen!«
    Nach dem Essen, an der Spüle, musste er das Gesicht so ins Licht halten, dass sie irgendein Zeug auf die Wunde tupfen konnte. Es brannte höllisch und trieb ihm die Tränen in die Augen, was aber noch harmlos war, denn anschließend massierte ihm Flips Mutter das Zeug mit der Kuppe ihres Mittelfingers in die Lippe ein.
    »Stimmt was nicht, Philip?«, fragte sie. »Du siehst ein bisschen niedergeschlagen aus.« Mit der anderen Hand strich sie ihm übers Haar, so wie es seine eigene Mum manchmal tat.
    »Nein, alles bestens. Ehrlich.«
    Als er aus der Küche rauskam, war er erleichtert. Diesmal also ein langer Spaziergang. Je länger Alex wegblieb, desto weniger Zeit musste er im Haus verbringen, den Sohn für die Mutter eines anderen spielen. Und desto weniger Zeit konnte er vor dem PC sitzen und auf Nachrichten warten, die nicht eintrafen, oder wenn doch, ihm nicht das mitteilten, was er hören wollte.
    Er ging mit Beagle zum Fluss, der quer durch das Städtchen verlief. An der Brücke führte eine Treppe zu einem Park mit einem Spielplatz hinunter und in der anderen Richtung zu einem Uferweg, der am Fluss entlang zu einem Wäldchen führte. Alex nahm diesen Weg. Der Park war womöglich derselbe, in dem sich Donna mit ihm treffen wollte. Auch wenn sie ihn nicht unbedingt erwartete, war sie vielleicht trotzdem dort. Alex blieb kurz stehen und ließ Beagle pinkeln, dann gingen sie eilig weiter. Die Häuser lichteten sich, bis nur noch Bäume und der Fluss zu sehen waren. Sie hatten den Weg ganz für sich, nur noch ab und zu kamen ihnen vereinzelte Jogger oder andere Leute mit Hunden entgegen. Dafür gab es Schwärme von Mücken. Es war noch hell, die Abendsonne fiel in schrägen Streifen durch die Blätter und man hörte nur den Wind, das Gezwitscherder Vögel und das Raunen der Strömung im steinigen Flussbett.
    Nach ungefähr zehn Minuten nahm Beagle eine Fährte auf und verschwand schnüffelnd zwischen Farnkraut und Baumwurzeln. Alex, der ihn von der Leine gelassen hatte, folgte ihm. Bald erreichten sie einen anderen Weg, der sich, mit glitschigem Moos überwachsen, unter tief hängenden Zweigen dahinschlängelte. Der Weg führte auf eine Lichtung, besser gesagt auf einen Friedhof. Die verwitterten Grabsteine waren von Flechten überwuchert und standen krumm und schief. Viele Inschriften waren unleserlich. Diejenigen, die Alex entziffern konnte, reichten bis ins 17.   Jahrhundert zurück. Die meisten Verstorbenen waren alt geworden, nur einer nicht: William Edward Gelderd, vier Jahre alt, »in ewigen Schlaf abberufen« am 5.   Mai 1810.
    Vor gut zweihundert Jahren mussten seine Eltern hier an seinem Grab geweint haben, als der kleine Sarg in die Grube hinuntergelassen worden war. Heute zeugten nur noch verwitterte Buchstaben auf einer Steinplatte von ihm. Er war ein Nichts. Seine Überreste waren bestimmt längst vermodert. Er war zu jung gestorben, um Kinder, Enkel, Urenkel und Ururenkel zu hinterlassen, die seine DNA in die Zukunft weitergaben.
    Bei dieser Vorstellung lief es Alex kalt den Rücken herunter.
    Ihm wurde klar   – wenn er es nicht schon die ganze Zeit gewusst hatte, wenn er nicht zu schockiert, zu gelähmt gewesen wäre, um es sich einzugestehen   –, dasses nur einen einzigen plausiblen Grund dafür gab, weshalb David nicht glauben wollte, dass die Mail von ihm stammte. Eine einzige Erklärung dafür, weshalb Alex selbst nicht »Enter« hatte drücken wollen, nachdem er seinen Namen ins Suchfeld eingegeben hatte.
    Weil Alex Gray tot war.

8
     
    Dieser Albtraum war der schlimmste bislang.
    Schwärme körperloser Stahlhände krallten nach seinen Beinen, während er einen Hang aus geschmolzenem Teer emporrannte. Klauenartige Finger zogen ihm das Fleisch bis auf die Knochen ab, das klebrige Schwarz unter seinen Füßen war glitschig von seinem eigenen Blut. Stimmen. Ein unaufhörliches Kreischen, als kratzten die Hände das Geräusch mit ihren Metallfingernägeln aus der Luft.
    Als Alex erwachte, erloschen die Bilder in seinem Kopf, alles wurde schwarz. Nur das Kreischen dauerte noch einen Augenblick an, bis es ebenfalls erstarb und alles still und stumm

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