CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
umgelegt hatte, damit das Mutterschaf das Junge für ihr eigenes hielt und es bei sich saugen ließ. Ließen sich Menschenmütter genauso leicht täuschen? Wenn er Mum bloß
gegenüberstehen
könnte, dann würde sie ihn trotz allem erkennen – irgendwie, mit ihrem Mutterinstinktoder so. Oder er könnte ihr Dinge über sich erzählen, aus seinem Leben, aus der Familie, die nur Alex wissen konnte. David hatte er auf diese Weise nicht überzeugen können, aber David war sein Freund, nicht seine Mutter – die Frau, die ihn in ihrem Leib getragen und ihn zur Welt gebracht hatte, die ihn gestillt und vierzehn Jahre lang aufgezogen hatte. Er hatte einst in ihr gelebt, so wie er jetzt in Flip lebte. Wenn ihn irgendjemand im Körper dieses fremden Jungen, mit dem Gesicht dieses fremden Jungen wiedererkannte, dann seine Mum.
Und wenn nicht, wenn niemand ihn erkannte, dann würde er abhauen. Sich aus dem Staub machen, sich irgendwo verstecken. Als Obdachloser im Wald hausen, wenn es sein musste. In Philip gestrandet, aber nicht länger gezwungen, er zu
sein
oder als Philip zu leben, bei Philips Familie, in dessen Schule. Lieber würde er fliehen, sich auf eigene Faust durchschlagen und, so gut es ging, weiter existieren. Als
er selbst.
Daran musste er festhalten: Was auch mit seinem Körper passiert sein mochte, innen drin war er immer noch »Alex«. Alex’ Seele, Alex’ Verstand, das, was Alex ausmachte.
Was ihn auch umgebracht haben mochte,
diesen Teil
hatte es nicht abgetötet.
Es musste ganz plötzlich gekommen sein, ohne jede Vorwarnung, sonst könnte er sich daran erinnern. Gehirnschlag, ein Unfall, Herzinfarkt. Etwas in der Art. Vielleicht hatten ihn Terroristen mit einer Bombe in die Luft gesprengt (unwahrscheinlich – auf dem Heimwegvon David beziehungsweise in seinem eigenen Bett). Oder er war überfallen worden, von einer Bande Jugendlicher, die ihn getreten und erstochen hatten. Aber Alex erinnerte sich an keine Prügelei. Dabei wäre es das Einfachste von der Welt, herauszufinden, was passiert war. Gleich am ersten Abend, in der Stadtbücherei, als er mit Beagle Gassi war; in der Schulbibliothek, als er David gemailt hatte; jederzeit an Flips PC, nachdem er sich ein neues Passwort verschafft hatte. Wenn ein Vierzehnjähriger stirbt, wird garantiert darüber berichtet. Und wenn es in den Nachrichten kommt, dann ist es auch online, irgendwo, in irgendeiner Form. In null Komma nichts hätte er sie auf dem Bildschirm lesen können: die Geschichte seines eigenen Todes.
Aber die Angst davor, seine Befürchtungen bestätigt zu sehen, war viel, viel stärker gewesen als die Angst,
nichts
zu wissen. Sich selbst zu googlen hätte die Sache irgendwie
endgültig
gemacht.
Alex war noch nicht bereit für Endgültigkeit gewesen.
Er war auch jetzt noch nicht dafür bereit. Er musste nach Hause und sonst nichts.
Erst als der Zug Litchbury hinter sich ließ, wurde Alex richtig klar, was er getan hatte. Einfach abhauen, Flips Vater beklauen – so etwas Rücksichtsloses und Impulsives hatte er noch nie gemacht. Sein Herz raste und er befürchtete, sich übergeben zu müssen. Bestimmt sahen ihm die anderen Leute im Abteil an, dass er auf der Flucht war. Dass er ein Dieb war.
Er starrte aus dem Fenster. Versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen.
Mr und Mrs Garamond waren bestimmt am Boden zerstört, wenn sie feststellten, dass er einfach weggelaufen war. Dass ihr Sohn verschwunden war. Er stellte sich vor, wie sie am Telefon auf Neuigkeiten warteten oder wie sie Philip vor laufenden Kameras tränenreich anflehten, doch wieder zurückzukommen. Die Tragweite dessen, was er angestellt hatte, erschütterte ihn, die Sorge, die er zwei unschuldigen Menschen bereitete. Drei Menschen, wenn er Teri mitzählte. Auch wenn sie ihren Bruder nicht leiden konnte, fiel es Alex schwer, sich vorzustellen, dass sie sich über sein plötzliches Verschwinden freute.
Während ihn der Zug aus Flips Leben forttrug, traf Alex unvermittelt die Erkenntnis, dass – was auch immer in London passierte – er nie wieder einen Fuß in das Haus der Garamonds setzen würde.
Es war schon fast vier, als Alex in die Straße einbog, in der er wohnte. Er hatte zwei Stunden in einem Café am Bahnhof Crokeham Hill totgeschlagen, ehe er für das letzte Stück seiner Heimreise in den Bus gestiegen war. Es hätte komisch ausgesehen, wenn er früher zu Hause aufgetaucht wäre, wo doch Jugendliche in seinem Alter um diese Zeit in der
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