CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
Schule sein sollten. Die beiden Stunden waren ihm wie zehn vorgekommen, aber er hatte die Zeit genutzt und sich die Geschichte noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Erhatte sich innerlich auf die Begegnung mit seiner Mutter vorbereitet.
Als er nun auf das Haus zuging, musste Alex unwillkürlich daran denken, dass er sich womöglich
selbst
sehen würde. An einem Fenster, im Garten oder auf der Straße. Vielleicht öffnete er ja selbst die Tür, wenn Alex anklopfte. Der lebendige Körper, den er zurückgelassen hatte und der womöglich ohne ihn weiterlebte. Aber das würde natürlich nicht geschehen. Es konnte nicht geschehen. Es gab keinen lebendigen Körper mehr. Inzwischen hatte er begriffen, wovor die Kollegin seine Mutter hatte beschützen wollen. Und warum der Anruf sie dermaßen empört hatte.
»Alex« war nicht mehr hier. Er war nirgendwo mehr, er war weg.
Die Monks Road sah aus wie immer. Unverändert. Zuletzt war er im Winter hier gewesen, jetzt war Sommer, aber ansonsten sah alles noch ziemlich genauso aus. Die Cockers in Nummer 157 bauten über der Garage an, und vor dem Haus der alten Tratschtante in Nummer 143 stand ein ZU VERKAUFE N-Schild , das war alles. Ob ihn ein Nachbar sah? Egal, man würde ihn ohnehin nicht erkennen. Als Flip konnten die Leute mit ihm nichts anfangen. Ob sie mit Alex je etwas hatten anfangen können? Es kam ihm nicht richtig vor, dass sich hier so gut wie nichts verändert hatte, dass das Leben einfach weitergegangen war. Die gleiche kleine Einkaufszeile gegenüber, auch die gleichen Läden, nur in der Bäckerei standen andere Verkäufer undein Fenster vom Supermarkt war mit einer Spanplatte vernagelt. Die gleichen Jungs fuhren auf Skateboards die Rampe für die Rollstühle und Kinderwagen herunter. Die gleiche Schlange an der Pommesbude. Auf dieser Straßenseite: die gleichen Häuser, Garagen, geparkten Autos; die gleichen Sträucher, Blumenbeete und Hecken. Die gleichen Rasenflecken. Die gleichen Vordächer. Die gleichen Türen und Fenster. Die gleichen Vorhänge. Demzufolge waren auch die Leute in diesen Häusern immer noch dieselben. Sie führten ihr Leben weiter wie immer, als spielte Alex Grays Abwesenheit überhaupt keine Rolle oder als hätten sie ihn ganz schnell vergessen oder als hätte es ihn nie gegeben.
Was hatte er erwartet? Dass sich die Straße, das ganze Viertel vor lauter Trauer in eine trostlose Einöde verwandelt hatte? Dass die Ausgelöschten eine sichtbare, fühlbare Spur hinterließen?
Hinter der Tür von Nummer 151 würde es anders sein. Von außen sah alles wie immer aus: das schäbige Mauerstück neben der Treppe, wo die Farbe abgeblättert war und das schon seit Jahren auf Dads Aufgabenliste stand; die senffarbene Tür mit dem Streifen freiliegender Grundierung; der Weihnachtsbaum, den sie vor Ewigkeiten im Vorgarten eingepflanzt hatten und der jetzt bis zur Dachrinne reichte. Aber drinnen würde Alex’ Abwesenheit Spuren hinterlassen haben. Vielleicht indem sein Zimmer seit dem Tag, an dem er gestorben war, unverändert geblieben war. Oder in Mum, Dad, sogar Sam – dieTrauer in ihren Augen, immer noch, nach so vielen Monaten.
Irgendetwas.
Eine Spur von ihm.
Als er sich den Augenblick seiner Rückkehr vorher ausgemalt hatte, hatte er sich immer irgendwo hinter einer Ecke gesehen, eine im Schatten verborgene Gestalt, die aus ihrem Versteck heraus alles beobachtete. Jemand, der den richtigen Moment abwartete, bis er zur Haustür hochging. Jetzt war es natürlich nicht dunkel, nicht einmal Abend, es gab keine dunklen Ecken, in denen man sich verstecken konnte. Es war die letzte Juniwoche, ein viel zu heller, viel zu schöner Sommernachmittag. Also stand er einfach da, auf der Straße, unübersehbar und gelähmt von Unentschlossenheit. Das hier war sein Zuhause, hier lebte seine Familie. Obwohl für ihn selbst seit »damals« nur ein paar Tage vergangen waren, hätte Alex ein Zeitreisender, ein Fremder sein können, ein Außerirdischer, der von einem Raumschiff auf die Erde gebeamt worden war. Die Vorstellung, seine Mutter könnte den Geist ihres toten Sohnes im Körper dieses falschen Jungen erkennen, kam ihm mit einem Mal absurd vor.
Das Auto stand nicht in der Einfahrt. Das war ihm nicht gleich aufgefallen. Dad war bestimmt noch bei der Arbeit. Trotzdem war jemand da – in Mums und Dads Schlafzimmer stand ein Fenster offen, der Vorhang wehte im Luftzug und Alex hörte die Klospülung rauschen. Sams Roller lag auf der
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