CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
umeinanderwanden wie roboterähnliche Schlangen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Garamonds hochkamen. Sie würden darüber reden wollen, warum er sich selbst und die ganze Familie so bloßgestellt hatte. Darüber und über die anderen noch ungeklärten Themen: Jack, die Schule, die Klarinette. Weshalb Cherry beim Abschied so verstört gewesen war. Vielleicht würden sie ihn auch erst mal in Ruhe lassen. Später mit ihm reden, wenn sich alle beruhigt hatten. Wenn er sich beruhigt hatte.
So oder so – er hatte ihnen nichts zu sagen.
Alex bewegte die Maus und der Bildschirmschoner verschwand. Er schloss die P E-Seite und gab eine neue Suchanfrage ein: »Alex Gray«.
Er hatte die Links schon so oft überflogen: Online-Versionen von Zeitungsartikeln. Blogs. Foren. Andere Funde. Alex hatte sie gelesen, wenn er schlecht drauf war, als hielten sie seine Verbindung mit sich selbst aufrecht, als könnten sie ihm bestätigen, dass es Alex Gray tatsächlich gab. Aus jedem Link stach sein Name fett markiert heraus.
Das bin ich. Das bin
ich.
Genauso oft kam es Alex aber auch vor, als bezögen sich die Seiten auf jemand ganz anderen. Manchmal war es so ähnlich, wie wenn man Fotos von sich als Kind anschaut: Man denkt zwar: Das bin »ich«, aber eine frühere, veraltete Ausgabe und daher nicht das maßgebliche »Ich
«.
Auf den meisten Seiten fand sich ein ziemlich aktuelles Foto von ihm (das zweifellos seine Eltern den Medien überlassen hatten). Mum hatte es mit ihrer neuen Digitalkamera an Alex’ vierzehntem Geburtstag aufgenommen, zwei Monate vor dem Unfall. Er posierte darauf in einer Gondel des Riesenrads an der Themse, mit dem Parlamentsgebäude im Hintergrund.
He, Leute, da bin ich und amüsiere mich mordsmäßig an meinem Geburtstag!
Wie immer hat er das schwächere linke Auge ein bisschen zusammengekniffen. Es war nicht besonders sonnig, aber die durchsichtige Haube der Gondel verstärktedas Licht und ließ sein Gesicht noch blasser aussehen und seine Haare noch röter leuchten als sonst.
Er, Alex, vor einem Dreivierteljahr. Neun Monate in Echtzeit, für ihn aber nur drei.
Er klickte sich zu Davids Blog durch. Egal, wie oft er diese Seite besuchte, Alex staunte jedes Mal, wie gut sein Freund sie hingekriegt hatte. Webdesign war Davids Ding, genau das wollte er später auch im Studium machen. Alex klickte einen der unteren Buttons auf der linken Seite der Homepage an.
Alex Gray
stand auf dem Button, sonst nichts. Ein Portal zu einem virtuellen Schrein. Als Alex den Link entdeckt hatte, war er sich vorgekommen, als stünde er vor seinem eigenen Grab.
Auch hier erschien das Foto von Alex im Riesenrad. Daneben ein Videolink. Alex klickte ihn an. Seine Mum hatte die Sequenz gefilmt, als sie herausgefunden hatte, wie ihre Kamera bewegte Bilder aufnehmen konnte.
Da war er, genau wie beim letzten Mal, als er den Clip angeschaut hatte: durch die halb offene Zimmertür gefilmt, im Profil, in seiner Crokeham-Hill-Schuluniform, beim Klarinetteüben. Er hatte erst gemerkt, dass er gefilmt wurde, als seine Mutter beim Refrain des Liedes »Bridge Over Troubled Water« leise mitsang. Das Bild fing an zu wackeln, als Mum ihm lachend zurief
He, nicht aufhören!
und dabei versuchte, Alex im Bild zu behalten.
Film was anderes,
hatte er gesagt und die Tür zugemacht. Der kleine Film endete mit einem Bild der Tür, dann schwenkte die Kamera um 180 Grad und Mum filmte sich selbst, wobei ihr Gesicht in der extremen Nahaufnahmeein bisschen verschwommen war.
Mein großer Sohn! Wenn er später mal Solist bei den Philharmonikern ist, wird dieses Filmchen ein Vermögen wert sein.
An dieser Stelle fing es an zu piepen, das Bild wurde schwarz und man hörte sie im Hintergrund fluchen, als sie herauszufinden versuchte, welchen Knopf sie versehentlich gedrückt hatte.
Das war nur eine Woche vor dem Unfall gewesen. Wenn Alex nicht mehr aus dem Koma aufwachte – wenn er
starb
–, dann blieben das die letzten Bilder von ihm.
Seine Eltern hatten ihm die Klarinette gekauft, als er noch in der Grundschule war. Der Arzt meinte, das Spielen würde sein Asthma lindern, weil es die Bronchien öffnete. Das hatte nicht gestimmt. Damals hatte er gar keine Klarinette haben wollen. Wenn Mum und Dad schon Geld für ein Instrument rauswarfen, dann bitte für eine Gitarre! Und dann musste er auch noch
zwei Mal
die Woche zum Unterricht! Aber Alex hatte alle überrascht, auch sich selbst.
Sie hätten Duette spielen können, er und Cherry.
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