CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
In der Mittagspause im Musikraum der Schule: er mit der Klarinette, sie mit dem Cello.
Jetzt müsste Cherry bei ihm sein, hier neben ihm am Computer, und zusammen mit ihm die Bilder ansehen. Sehen, wer er wirklich war.
Wie war er bloß auf die Idee gekommen, dass sie verstehen würde, was mit ihm passiert war?
Er klickte sich von Davids Blog zurück zur Linkliste. Eine Seite folgte auf die nächste. Anscheinend war erschon richtig berühmt. Der Koma-Junge. Er war wirklich berühmt, dieser Junge, der er war und auch wieder nicht. Und genauso unerreichbar für ihn wie jede andere Berühmtheit. Wie ein Süchtiger klickte Alex von einem Link zum nächsten, öffnete diesen oder jenen, überflog die Seite, schloss sie wieder. Holte sich seine Dosis, dann ging’s weiter zur nächsten Seite und wieder von vorn.
Nach einer Weile ließ seine Konzentration nach, weshalb Alex einen ganz aktuellen Link, einen, den er noch nicht kannte, beinahe übersehen hätte.
Eltern des Koma-Jungen hoffen auf ein Wunder, aber die Zeit läuft ihnen davon …
Es war ein drei Tage alter Artikel aus der Online-Ausgabe der Lokalzeitung von Südlondon. Der Artikel bestand aus einem Interview mit Alex’ Eltern, eingebaut in die neuerliche Bitte der Polizei um Hinweise auf den flüchtigen Autofahrer. Inzwischen verbrachte der Sohn der Grays schon den achten Monat in Bewusstlosigkeit, und seine Eltern machten sich – zum ersten Mal öffentlich – mit dem Gedanken vertraut, dass er vielleicht nie mehr aufwachen könnte.
»›Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben‹, sagt der Vater des Jungen. ›Aber offen gestanden ist sein Zustand seit dem Unfall unverändert. Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Ärzte uns raten, ihn gehen zu lassen.‹«
In solchen Fällen, las Alex, gab es eine gerichtliche Entscheidung, die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhrabzustellen, wenn sich der Patient ein Jahr lang ohne Anzeichen von Besserung im Wachkoma befand.
Schon an Weihnachten konnte er tot sein.
Der Artikel endete mit einem Zitat von Mrs Gray: »Es zerreißt uns das Herz, ihn Tag für Tag und Woche für Woche so zu sehen. Manchmal könnte man fast glauben, dass er wach ist. Erst diesen Montag saß ich an seinem Bett, und ich hätte schwören können, dass Alex mich angeschaut hat und etwas sagen wollte. Aber das kann natürlich nicht sein.«
Alex griff sich Flips Handy und tippte mühsam mit zitternden Fingern.
Wo bist du, Rob? Du musst mich hier rausholen.
22
Wenn es nach Alex gegangen wäre, hätte Rob ihn sofort nach London gefahren.
Aber Rob weigerte sich. Alex sollte nirgendwohin, ehe er sich nicht beruhigt hatte und sie über alles geredet hatten. Als die SMS kam, war Rob unterwegs nach Manchester gewesen. Nachdem sie ein paarmal hin- und hergesimst hatten (Rob wollte erst genauer wissen, weshalb Alex so aufgeregt war), kehrte Rob um und fuhr nach Litchbury zurück. Alex stand schon auf dem Supermarktparkplatz, als Rob dort einbog. Sie fuhren zu einem von Robs Übernachtungsstandorten und deckten sich unterwegs mit Bier und Pizza ein.
Alex war fast wahnsinnig vor Ungeduld. »Was soll das werden, ein Picknick?«
»Nach so einem Tag, wie du ihn hinter dir hast, kannst du auf gar keinen Fall Hals über Kopf in das Krankenhaus stürmen. Willst du dort nachts um eins oder zwei aufschlagen und denen erzählen, du bist ein Besucher? Hallo? Iss was, trink ein paar Bier.
Schlaf
erst mal drüber.«
Das klang vernünftig, so viel musste Alex zugeben. »Weißt du, was das Allerschlimmste ist?«, sagte er, als Rob den Camper langsam durch die bewaldete Hügellandschaft östlich von Litchbury lenkte.
»Glaub schon.«
»Was denn?«
»Was deine Mum gesagt hat. Dass sie das Gefühl hatte, du wolltest ihr etwas sagen.«
Alex sparte sich die Bestätigung. Manchmal kam es ihm vor, als würde Rob ihn fast besser kennen als er sich selbst. Er betrachtete Robs beim Fahren konzentriertes Gesicht. Die Hände lagen entspannt auf dem Lenkrad, er schaltete das Fernlicht an. Insekten tanzten in den Scheinwerferkegeln. Alex hatte Rob ganz spontan angesimst: Nachdem er den Artikel gelesen hatte, war sein erster Impuls gewesen, sich mit dem einzigen Menschen in Verbindung zu setzen, der ihn verstand. Der ihn aus Flips Zimmer, aus Flips Haus wegholen konnte. Der ihm helfen konnte.
Wie,
hatte er sich nicht überlegt – von der absurden Idee, dass sie beide noch in der Nacht nach London fahren sollten, mal
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