CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
Familie, und darauf würde das Gespräch hinauslaufen. Also wechselte er das Thema. »Ich fand das richtig klasse von deiner Mutter, dass sie uns einfach so zum Tierarzt gefahren hat. Von euch beiden. Du hast deine Orchesterprobe verpasst und alles.«
»Wir hätten den Hund ja nicht einfach im Garten liegen lassen können, oder?« Leise setzte sie hinzu: »Armer alter Beagle.« Und als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, das ihr schon lange im Kopf herumging: »Du hast mich angelogen. Wegen seinem Namen. Du hast gesagt, er hätte schon so geheißen, als ihr ihn …«
»Es war mir peinlich. Das mit dem Brief an den Weihnachtsmann und so.«
»Dabei ist die Geschichte total niedlich.«
Schon wieder log er sie an. Eine Lüge zog die nächste nach sich. Es nahm kein Ende. Nie. Solange er für Cherry Philip bleiben musste, solange sie jedes Mal Philip sah, wenn sie ihn anschaute, so lange verbarg sich Alex hinter einer falschen Fassade und ließ Cherry nicht an sich heran.
Er zog die Knie unters Kinn. Im gedämpften Licht schien Cherrys Haut zu leuchten, ihre Haare sahen aus wie mit Glitzer bestreut.
»Ich war gestern in Manchester«, sagte er. »Mit Rob.«
»Deinem Cousin?«
Alex schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht verwandt.«
»Ach. Ich dachte …«
»Nein. Das war auch gelogen.«
Hätte Cherry mit im Campingbus gesessen und miterlebt, wie Rob Alex sein Schicksal erklärt hatte, hätte sie begriffen, weshalb er so unglücklich war. Er konnte als Schiffbrüchiger in Flips Leben das Beste daraus machen … oder sich verrückt machen und dem Leben nachlaufen, das früher einmal seines gewesen war.
Ohne Vorwarnung fing Alex an zu weinen. Er ließ den Hinterkopf gegen die Wand fallen, schloss die Augen und ließ die Tränen einfach laufen, ohne sich um Cherrys Anwesenheit zu scheren.
»Philip!«
Sie rückte auf dem Bett an ihn heran, legte eine Hand auf sein Knie, die andere erst auf seinen Arm, dann auf sein Haar, seine Wange. Sie streichelte ihn. Wischte die nassen Streifen weg. Jetzt mit beiden Händen. Nahm seinen Kopf, zog ihn an ihre Schulter und ließ ihn dort weiterschluchzen. Kurz darauf hob sie sein Gesicht vorsichtig wieder an, damit sie ihn anschauen konnte, wobei sie ihm mit ihrem überlangen Ärmel die Wangen abtupfte. Sie atmeten ganz dicht beieinander, ihr Blick war unverwandt auf ihn gerichtet und suchte in seinen Augen, als stünde dort, im Muster seiner Iris, die Antwort auf alle Fragen – wenn sie sie nur entziffern könnte.
Sie wollte ihn küssen.
Er hielt sie sanft davon ab. »Erst muss ich dir etwas zeigen.«
»Was denn?«
Alex stand schwerfällig auf, ging zum Schreibtisch und stellte den PC an. Als der Rechner hochgefahren war, sagte er: »Ich muss dir zeigen, wer ich wirklich bin.«
21
Als sie zu Ende gelesen hatte, ließ sich Cherry in den Stuhl zurücksinken und atmete tief und lange aus.
»Psychische Evakuierung«, sagte sie.
»Mhmm.«
»Aber … Was willst du mir damit sagen, Philip?«
Alex saß auf der Bettkante und ließ sie nicht aus den Augen. Das fahle Computerlicht erhellte ihr Gesicht. Die ganze Zeit über, als sie auf der Homepage immer weiter nach unten scrollte und dem Link zu den Geschichten der Evakuierten folgte – zu seiner Geschichte –, hatte er jede Regung in ihrem konzentrierten Gesicht verfolgt. Jetzt drehte sie sich mit dem Stuhl halb zu ihm um, aber er konnte ihre Miene trotzdem nicht deuten.
»Das bin ich«, sagte er. »Das ist mir passiert. Ich bin einer von denen.«
»Du bist …«
»Ein psychisch Evakuierter. Eigentlich heiße ich Alex Gray.«
Sie deutete auf den PC. »
Du
bist … iamalex1? Der Junge, der im Koma liegt?« Er nickte. »Aber das ist … Philip, das ist total
verrückt
!«
»Ich wollte es dir schon früher sagen. Einmal habe ich es dir sogar gesagt.«
Sie überlegte. »Wann denn?«
»Als wir zusammen von der Schule nach Hause gegangen sind und ich dich gefragt habe, ob wir uns mal verabreden. ›Aber du bist Philip Garamond‹, hast du gesagt. Und ich hab darauf so was gesagt wie ›Und wenn ich dir sagen würde, dass ich das gar nicht bin‹.« Er zuckte die Achseln. »Du hast gedacht, ich mache Witze.«
Sie lachte ein bisschen gezwungen. »Klar habe ich gedacht, du machst Witze.«
Alex lehnte sich an die Wand. Das Bettgestell knarrte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ihr die Webseite zu zeigen? Er schloss die Augen. Wenn er sie wieder aufmachte, starrte sie ihn vielleicht
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