Crashkurs
Herbst 2008 sogar Finanzminister Peer Steinbrück, der eigentlich stets auf eine Beruhigung der Marktteilnehmer setzt und jedes Wort auf die Goldwaage legt, von der »größten Krise der letzten Jahrzehnte« spricht, dürfte selbst dem Unbedarftesten bewusst werden, dass diese Krise ungleich schwerwiegender ist als die vorhergehenden. Da rollt ein Tsunami auf uns zu. Was bis zum Herbst 2008 passierte, war bestenfalls die Phase, in der sich das Wasser weit zurückzieht, bevor die große Welle an Land geht.
Wie dieser Tsunami verläuft und welche Auswirkungen er haben wird, darüber wird in der Finanzwelt gestritten und diskutiert wie über kaum ein anderes Thema. Beeindruckend ist, wie dramatisch die Einschätzungen der Fachleute auseinandergehen. Die einen sehen das Ende unserer wirtschaftlichen Grundordnung, die anderen gehen davon aus, dass in wenigen Monaten alles vergessen ist und wir uns auf den Weg zu neuen Gipfeln machen. Das Faszinierendste daran ist, dass es für beide Sichtweisen gute Argumente gibt. Damit Sie sich ein eigenes Bild machen können, werde ich Ihnen beide Varianten vorstellen, und am Ende entscheiden Sie selbst, welche Variante Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand als die wahrscheinlichste erscheinen lässt.
Da die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt, beginnen wir mit dem Horrorszenario und erholen uns am Ende mit dem nicht minder spannenden Hoffnungsszenario.
4. Die wirtschaftliche Kernschmelze – das Horrorszenario
Wir gehen davon aus, dass die Immobilienpreise (zunächst in den USA) noch einige Jahre weiter fallen werden. Die Entwicklungen aller freien Märkte erfolgen immer in Wellen. Und genauso wie eine Welle die Preise nach oben übertreibt, übertreibt die Gegenbewegung in ihrer tiefsten Ausdehnung nach unten. Am besten lässt sich das an der Internetblase 2000 erklären: Zunächst wurden die Kurse völlig wahnsinnig nach oben übertrieben. Der Dax stand bei 8000 Punkten, eigentlich wertlose Unternehmen wurden mit abenteuerlichsten Bewertungen versehen. Da war ein Filmrechtehändler wie EM.TV mehr wert als ein Traditionsunternehmen wie die Deutsche Lufthansa mitsamt ihrer Flugzeugflotte. Am Ende der Korrektur im Frühjahr 2003 waren selbst die stabilsten Unternehmen deutlich unter ihrem Buchwert zu bekommen. Das bedeutet: Wenn jemand alle Aktien einer solchen Firma zu diesem Kurs gekauft und dann alle Vermögenswerte des Unternehmens verkauft hätte, wäre er ein reicher Mann geworden. Eine Allianz-Aktie gab es damals für unter 45 Euro!
Man kann verallgemeinernd sagen, dass die Gegenbewegung umso heftiger in die andere Richtung ausschwingt, je überzogener die ursprüngliche Übertreibung war. Da die Übertreibung am amerikanischen Immobilienmarkt seit zwanzig Jahren wilde Blüten schlug, ist in etwa vorstellbar, wie übel die Gegenbewegung werden wird. Wer in diesen Tagen nach Amerika fährt, berichtet von einem wahren Schilderwald mit der Aufschrift »For Sale«.
Millionen von Amerikanern erfahren im Moment leidvoll, dass Immobilien auch im Wert fallen können. Das wird viele vom Kauf abhalten – zumindest bis die Preise völlig ausgebombt sind. Zu diesem Zeitpunkt wird es allerdings nicht mehr viele geben, die sich überhaupt noch ein Haus leisten können. Es macht sich kaum jemand in Deutschland klar, welche Dynamik dieser Prozess im Herbst 2008 bereits erfahren hat.
Zum Beispiel Cleveland im US-Bundesstaat Ohio: In einem einst als gute Wohngegend bekannten Viertel, der 52. Straße, wo samstags die Autos gewaschen wurden und die Nachbarn auf dem frisch gemähten Rasen zum Barbecue zusammensaßen, steht jedes fünfte Haus leer. Jugendgangs schlagen nachts die Fenster ein und verwüsten die Häuser auf der Suche nach Verwertbarem.
In den umliegenden Wäldern entstehen Zeltdörfer von Menschen, die durch Zwangsversteigerungen aus ihren Häusern geworfen wurden. Das ist keine Schilderung aus einem Mad-Max- Film über das Jahr 2150, sondern bittere Realität im Jahr 2008 – geschildert in einem Artikel der Welt vom 19. März. In und um Cleveland stehen zu diesem Zeitpunkt 10 000 (!) Häuser leer und verfallen. Der Bürgermeister hat mittlerweile einundzwanzig Banken wegen ihrer Kreditvergabepraxis und des daraus folgenden Verfalls ganzer Stadtviertel verklagt. Große Erfolgsaussichten wird er wohl nicht haben.
Dieser Niedergang der Immobilienpreise findet auch so leicht keinen Boden, wie das vielleicht in Deutschland oder England möglich wäre. Hier in Deutschland gibt es
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