Crazy Moon
entscheidenden Unterschied. Sie müssen erst noch
werden
.«
»Werden.« Martin legte die Mappe mit seinem Notizblock vom einen auf das andere Bein.
»Werden!«, wiederholte meine Mutter. »Und an diesem |129| Punkt greife ich ein. Ich stelle die Verbindung zwischen der Welt der Raupen und der Welt der Schmetterlinge her. Und diese Verbindung bedeutet harte
Arbeit
. Doch allen Menschen stehen alle Möglichkeiten offen. Sie sind schon da, haben nur die ganze Zeit über in den Menschen geschlummert. Jetzt müssen sie nur noch
werden
!«
Ihre Augen leuchteten, und obwohl sie auf der anderen Seite des Ozeans war, traf mich dieses Leuchten bis ins Herz. Meine Mutter glaubte an das, was sie sagte, deshalb war sie in der Lage, andere zu ihrem Glauben zu bekehren. Ihr Glauben hatte mich um zwanzig Kilo erleichtert. Ihr Glauben hatte uns von einem Zigeunerdasein mit Ketchupsuppe und Übernachtungen im Kombi in ein neues Leben katapultiert, in dem wir alles hatten, was wir wollten. Und jetzt schickte sie sich – mit einer einzigen grandiosen Geste ihrer Hand – an durch ihren Glauben Millionen von Menschen zu verwandeln: Aus resignierten, Hamburger-süchtigen, schlappschwänzigen Raupen
wurden
prächtige, schlanke, bunt schillernde Schmetterlinge.
Als ich das Geschirr wegräumte, sah ich einen flüchtigen Moment lang mein Spiegelbild im Küchenfenster. Die in Form gezupften Augenbrauen veränderten mein Gesicht radikal und meine Haare sahen natürlich auch völlig anders aus. Ich war
ein Projekt im Werden
. Zu dem Kommentar hatte Isabel sich immerhin durchgerungen, als sie einen Schritt zurücktrat und ihr Werk – mich – bewunderte. Jahrelang war ich eine Raupe gewesen. Und obwohl ich meinen Kokon bereits abgestreift hatte, indem ich abnahm und mein Fett, meinen Panzer, meine Jahre als Dicke – all das, was mich bis zu diesem Punkt in |130| der Gegenwart begleitet hatte – hinter mir ließ, war ich noch längst kein Schmetterling. Momentan konnte ich gerade einmal stehen statt zu kriechen und zum Himmel emporblicken. Doch ich war noch nicht bereit mich abzustoßen und zu fliegen.
|131| 8
Die Wochen vergingen. Allmählich gewöhnte ich mich daran, mit Mira unterwegs zu sein. Weder das Fahrrad noch die Klamotten störten mich mehr besonders, außer sie hatte sich noch unmöglicher aufgebrezelt als sonst, was allerdings nicht sehr oft geschah, so dass ich diese Situationen ganz gut vermeiden konnte. Was ich allerdings nach wie vor schwer ertrug, waren die Reaktionen der anderen – der Menschen in Colby.
Bea Williamson war natürlich nicht die Einzige. Die Frauen in der Stadtbücherei verdrehten die Augen, wenn sie Mira nur kommen sahen. Die Männer vom Baumarkt verkniffen sich ihr Lachen nur mühsam, wenn Mira, ihre rosa Handtasche fest unter den Arm geklemmt, vor sich hin murmelnd die Schraubenabteilung durchforstete. Manche Leute wandten den Kopf ab und grinsten heimlich. Doch andere zeigten deutlich, was sie von ihr hielten.
Zum Beispiel der Mann im Drogeriemarkt, als wir Alleskleber für ihre diversen Reparaturprojekte kauften: »Hallo, Mira, die Baptistengemeinde veranstaltet zum Unabhängigkeitstag ihren jährlichen Flohmarkt. Wir verlassen uns alle fest darauf, dass Sie wieder mindestens die Hälfte des Krempels aufkaufen.«
|132| Oder eines Tages im Supermarkt: Mira suchte sich eine Packung Kekse aus und wurde dabei von ein paar Frauen beobachtet, die neben der Gefriertheke die Köpfe zusammensteckten und vernehmlich tuschelten.
»Du liebe Zeit, Mira Sparks ist wirklich ganz verrückt nach Süßkram.«
»Ja, das sieht man ihr auch an.«
Klar, dass die Bemerkungen über ihr Gewicht mich besonders fertig machten. Aber ich hielt den Mund, schließlich wurde nicht ich angegriffen, sondern sie. An ihrer Stelle wäre ich jedes Mal gestorben, doch Mira schien sich an den verächtlichen Blicken und Kommentaren der Leute nicht zu stören; und falls doch, verstand sie es gut zu verbergen. Trotzdem fragte ich mich manchmal besorgt, ob sie eines Tages nicht doch zusammenbrechen würde, weil der Druck, sich ständig zu beherrschen, einfach zu groß wurde.
Wir sprachen allerdings nie offen darüber. Außer einmal – zumindest beinahe – in der Tankstelle, nachdem eine Frau Mira ein zweifelhaftes Kompliment wegen ihrer Terminator-Sonnenbrille gemacht hatte.
Mira kletterte gerade auf ihr Fahrrad, als ich zögernd darauf anspielte: »Das war nicht besonders nett.«
Mira zuckte bloß die Achseln und schob den
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