Crazy Moon
Wind auf. Miras Glockenspiele klingelten. Ich musste weitersprechen, ich musste einfach.
»Zwischen uns lief gar nichts. Trotzdem wurde ich am nächsten Tag in der Schule von allen fertig gemacht. Und so ging das immer weiter. Deshalb war ich auch so ekelhaft, als du mich vom Bahnhof abgeholt hast, an meinem ersten Tag hier. Ich war es einfach nicht gewöhnt, dass jemand nett zu mir ist.«
»Du brauchst mir das nicht zu erzählen«, sagte er leise.
»Ich will es aber.« Meine Stimme klang belegt. »Du bist der Einzige, dem ich je davon erzählen wollte.«
|253| Ich konnte ihm immer noch nicht in die Augen blicken, obwohl er jetzt hinter der Leinwand hervorkam.
»Colie.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist mein wahres Ich, Norman. Damit meine ich nicht, dass ich die Sachen gemacht habe, die man mir nachsagt. Weil das nicht stimmt. Aber für die anderen war und bin ich eine Schlampe.«
Ich erstickte beinahe an dem letzten Wort. Es tat meinem Hals weh, als ich es herauswürgte.
»Colie«, wiederholte er sanft. Er stand so dicht vor mir, dass mein Körper fühlte, wie er mich anschaute.
»Ihnen war egal, was sie mir damit antaten. Aber mich hat es beinahe umgebracht.«
»Aber nur beinahe.« Er streckte die Hand aus und hob mein Kinn, so dass ich ihm ins Gesicht sehen musste. »Du wusstest, was die Wahrheit war, Colie, die ganze Zeit. Und nur darauf kommt es an.
Du
wusstest, dass es nicht stimmte.«
Das ganze vergangene Jahr überschwemmte meine Gedanken. Die permanenten Spötteleien, die vielen grässlichen Dinge, die passiert waren. Jedes einzelne Gramm Ich, das man mir genommen hatte.
Chase Mercers Gesicht, wie es sich im wackelnden Lichtkreis einer Taschenlampe von mir zurückzieht.
Auf der anderen Seite des Umkleideraums Caroline Dawes und ihre Freundinnen, laut lachend, mit weit geöffneten Mündern. Ich kehre ihnen den Rücken zu, versuche sie zu ignorieren, während ich mich umziehe.
Der Mann im Tätowierungssalon beugt sich mit der Nadel zu mir runter – das tut jetzt ein bisschen weh – ich schließe die Augen.
|254|
In unserem funkelnagelneuen Haus sitzt mir meine Mutter am Esszimmertisch gegenüber und fleht mich an ihr zu sagen, was los ist.
Mein eigenes grimmiges Spiegelbild starrt mir aus der Fensterscheibe entgegen, während der Zug in den Bahnhof von Colby einfährt, dem letzten Ort des Universums, an dem ich sein möchte.
Während ich so in der Mitte von Normans Universum saß, begannen die Erinnerungen sich auf einmal zu drehen, schneller, immer schneller. Ich spürte, wie ich unwillkürlich die Finger in die Lehne krallte, um mich festzuhalten.
Loslassen.
Isabels Stimme hallte in meinem Kopf wider. Einfach loslassen.
Das Drehen wurde lauter und lauter, riss alles mit sich. Nur wir beide saßen mittendrin, ganz still, und warteten, wie im Auge eines Wirbelsturms, bis es vorbei war.
Fester, immer fester umklammerte ich die Sessellehne und schloss die Augen. Norman hatte Recht: Ich kannte die Wahrheit, schon immer. Ich hatte sie dicht an meinem Herzen getragen, um die verwundbarste Stelle in meinem Inneren zu schützen.
Loslassen,
flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Vielleicht war das schon wieder Isabel mit ihren Tipps. Oder meine Mutter, die durch ihre Willenskraft Wunder geschehen ließ. Oder Mira oder Morgan, die mich anfeuerten. Oder Norman, der die Wahrheit als Geschenk ansah – was sie war. Vielleicht war es auch meine eigene Stimme, die ewig lang geschwiegen hatte. Die jedoch nicht länger schwieg.
Loslassen.
Da tat ich es. Einfach so.
|255| Im selben Augenblick schien das Drehen aufzuhören und alles wieder an seinen Platz zurückzukehren. Ich holte tief Luft, versuchte ruhig zu werden und öffnete die Augen – da sprang Norman unvermittelt auf und trat einen Schritt zurück. Als hätte er es auch gespürt.
Er starrte mich an. Hatte mein Gesicht sich verändert? Sah ich plötzlich anders aus, nicht mehr wie das Mädchen, das er seit so vielen Wochen auf seiner Leinwand erschuf?
Auf jeden Fall
fühlte
ich mich anders, das war das Merkwürdigste von allem. Als hätte sich etwas, das seit ewigen Zeiten straff gespannt, festgezurrt gewesen war, endlich gelockert; als wäre etwas, das unter großem Druck stand, endlich an die richtige Stelle gerückt worden. Jene zwanzig Kilo – jetzt erst waren sie wirklich verschwunden.
»Das Porträt.« Hastig nahm ich meine Position wieder ein und hob das Kinn, obwohl mein Herz immer noch wie rasend schlug. »Wir müssen . .
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