Crescendo
mehr aus wie ein Junge. Irgendwann, wenn sie so hässlich war, dass keiner mehr Notiz von ihr nahm, würde sie sich hoffentlich wieder sicher fühlen.
»Wie wär’s denn mit einer Tasse Kaffee? Ich tu auch nicht zu viel Milch rein und kein bisschen Zucker, versprochen.«
Ihre Mutter wusste, wie sie sich fühlte, ohne dass sie es erklären musste. Deshalb konnte Ginny ihre Anwesenheit auch noch ertragen. Mit allen anderen dagegen hielt sie es fast nicht mehr in einem Zimmer aus, mit ihnen zu reden war erst recht nicht mehr drin. Sogar ihr Vater, der sie, wie sie wusste, über alles liebte, brachte sie zum Frösteln. Er war ein Mann – sie ertrug die Nähe von Männern nicht, mit ihrem Tiergeruch und den dicken Händen. Ihr armer Dad. Sie schluchzte auf, und ihre Mutter zog sie vom Bett hoch und nahm sie in die Arme.
»Komm her, mein Kleines. Ist ja gut. Schsch, alles wird wieder gut, das braucht seine Zeit.«
»Ich halte es nicht mehr aus, Mum. Ich halte es einfach nicht mehr aus.« Ginny kämpfte mit den Worten. Sie hatte nicht sprechen wollen, aber jetzt, wo ihre Mutter so nah war, konnte sie einfach nicht schweigen. »Ich träume jede Nacht von ihm. Er kommt mich holen, ich weiß es. Ich kann es spüren, dass er da draußen ist und an mich denkt.«
Es war jeden Tag dasselbe. Seit dem Überfall war diese Überzeugung in ihr immer stärker geworden. Sie wusste, dass er sie zum Schweigen bringen wollte.
»Ginny, gestern Abend hab ich mit deinem Dad darüber gesprochen, und er hat die Polizei angerufen. Sie sagen, er wird nicht zurückkommen, aber sie haben trotzdem einen Wagen draußen postiert und fahren verstärkt in der Gegend Streife. Am Samstag geht’s in den Urlaub, nur wir drei. Tante May kümmert sich um deine Geschwister. Und wenn wir zurückkommen, haben sie ihn bestimmt schon erwischt.«
Ginny schüttelte den Kopf.
»Er ist schlau, Mum, richtig schlau. Cleverer als die Polizei. Ich bin nicht die Erste, weißt du!« Ihre Stimme wurde schrill, hob sich auf einer Welle der Hysterie.
»Genug jetzt, Ginny. Beruhige dich. Komm, ich lass dir ein schönes, heißes Bad ein – wenn du willst, kannst du was von meinem Schaumbad Chanel Nr. 5 reintun, und hinterher föhne ich dir die Haare.«
Ginny schnüffelte an der Bettwäsche. Alles roch muffig, wie ihre Haut. Seit dem Krankenhaus hatte sie nicht mehr geduscht, sie stank, das merkte sie sogar selbst, trotzdem hielt ihre Mum sie so fest gedrückt, als duftete sie nach Rosen. Ginny atmete tief durch. Mum hatte Recht. Sie sollte aufstehen und sich diesen Angstschweiß abspülen. Vielleicht würde sie sich dann wieder etwas mehr wie ein Mensch fühlen.
Während ihre Mum das Badewasser einlaufen ließ, suchte Ginny ein frisches weißes T-Shirt und eine khakifarbene Jeans heraus. Als sie die Vorhänge aufzog und den Nieselregen sah, nahm sie noch einen dünnen Pullover und ging mit den Sachen ins Bad. Es war dampfend und warm. Der Duft ihres Lieblingsparfüms entlockte ihr fast ein Lächeln. Auf den Toilettenschrank hatte Mum ihr Puder und Bodylotion mit derselben Duftnote hingestellt, obwohl sie beides seit Weihnachten wie ihren Augapfel hütete und nur zu besonderen Gelegenheiten verwendete. Ginny merkte, wie ihr erneut die Tränen kamen, und blinzelte sie weg.
Sie warf ihr schmutziges Nachthemd in den Wäschekorb und stieg in die Wanne, ließ sich behutsam ins Wasser sinken, sodass die dicke Schaumschicht unter dem Verband an ihrer Schulter blieb. Die tieferen Bisse brannten, aber trotzdem fühlte sich das Wasser herrlich auf der Haut an, seidig und wohltuend. Sie sank noch etwas tiefer, bis der Verband den Schaum berührte.
Lange Zeit blieb sie einfach so liegen, während Wasser und Öle sich in die Haut arbeiteten, die Poren öffneten und reinigten. Als das Wasser langsam abkühlte, schrubbte sie sich gründlich um die Verletzungen herum, bis ihre Haut rosa war. Anschließend wusch sie sich mit großen Schwierigkeiten die Haare, shampoonierte sie zweimal ein und massierte sich einen Pflegebalsam ein, den sie tatsächlich ganze zehn Minuten einwirken ließ.
Sie fühlte sich wie neu geboren, als sie aus der Wanne stieg und zusah, wie das schaumige Wasser abfloss und einen schmierigen, grauen Film auf dem Email hinterließ, wofür sie sich richtig schämte. Überrascht stellte Ginny fest, dass sie sich besser fühlte als seit Tagen. Ihre Erkältung war verschwunden, und der Nachgeschmack ihres letzen Albtraums verflüchtigte sich. Ihre Mutter, die
Weitere Kostenlose Bücher