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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Corley
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Autofahrer auf ihn achtete, aber als einziger Fußgänger auf der Landstraße kam er sich auffällig vor und beschloss, querfeldein zu gehen. Mit dem Auto hatte er verlorene Zeit gutgemacht, deshalb konnte er es sich leisten, das letzte Stück zu Fuß zu gehen.
    Eine Viertelmeile weiter ging ein Reitweg ab, der bald darauf zum Fußpfad wurde. Er führte zunächst zwischen Schrebergärten hindurch und an einer Gärtnerei vorbei, die kaum noch Freilandpflanzen hatte, und verlief dann wieder durch die freie Natur. Smith kam durch kleine Baumbestände und blieb an dem Gatter eines Zauns stehen, an den er sich noch aus seiner Kindheit erinnerte.
    Ein Hüsteln hinter ihm ließ ihn zusammenfahren. Ein älteres Ehepaar ging mit dem Hund spazieren, und er versperrte ihnen den Weg. Wie lange hatte er so dagestanden, mit den Gedanken in der Vergangenheit? Er streichelte den Hund, lächelte die beiden an, und die Lachfältchen um seine Augen wirkten so sympathisch, dass sie sein Lächeln erwiderten. Es machte ihm Spaß, den Menschen ein Lächeln zu entlocken. Wenn die beiden hier wüssten, was er getan hatte und was er ihnen jetzt in diesem Moment antun könnte, sie würden wahrscheinlich einem Herzinfarkt erliegen, bevor er sie überhaupt gepackt hätte. Bei der Vorstellung lachte er leise vor sich hin, und das Ehepaar drehte sich noch einmal um. Der Alte tippte sich an die Mütze und ging weiter. Er ließ ihnen ein wenig Vorsprung und trottete dann hinterdrein.
    Das Ehepaar blieb vor ihm auf dem Pfad und zwang ihn zu einem langsameren Tempo. Von Zeit zu Zeit hielt er inne und konsultierte seine Landkarte. Mit der Mütze, dem Rucksack und seinen verdreckten Schuhen sah er aus wie ein ganz normaler Wanderer. Endlich bogen die beiden ab, und er kam wieder schneller voran. Erinnerungen an jugendliche Erkundungen, an das Beobachten, Auskundschaften und schließlich Berühren übermannten ihn, und er fiel in den lockeren Trab, den er den ganzen Tag durchhalten konnte. Zu Fuß fühlte er sich ungeheuer stark, und er war imstande, länger und schneller zu laufen als die meisten. Außerdem kannte er die Gegend wie seine Westentasche. Sogar die Luft hatte einen vertrauten Geruch: Erde, schwache Spuren von Autoabgasen, und hin und wieder wehte ein Hauch von der städtischen Müllhalde herüber, wenn der Wind die Richtung wechselte. Er war fast da. Telford zeichnete sich grau am Horizont ab. Seit er fortgegangen war, um in Birmingham zu arbeiten, hatte die Stadt sich unregelmäßig ausgebreitet. Er würde sein Ziel schneller erreichen, als er gedacht hatte.

Kapitel achtundzwanzig
    »Schätzchen?«
    In der Stimme ihrer Mutter lag diese Mischung aus Sorge und Kummer, an die sie sich seit ihrem »Unfall«, wie die Eltern es nannten, gewöhnt hatte. Ginny biss die Zähne zusammen und drehte sich im Bett um.
    »Schatz?«
    Jetzt klopfte sie an die Tür. Ginny vergrub sich noch tiefer und reagierte nicht. Die Tür öffnete sich mit quietschenden Angeln, ein Geräusch, das so alt war wie Ginny selbst und das sie früher mit Trost und Geborgenheit verbunden hatte, das jedoch später, seit ihr Alter zweistellig geworden war, Störung und unerwünschte Einmischungen bedeutete.
    Sie spürte, wie ihre Mutter beim Blick ins Zimmer erstarrte. Überall lagen Klamotten herum, die Vorhänge sperrten das Tageslicht aus, der Boden war mit altem Spielzeug übersät, seit sie es in ihrem letzten Anfall durch die Gegend gepfeffert hatte. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter versuchte, nicht aus der Haut zu fahren, und lächelte bitter. Gut so.
    »Ach Schätzchen, war’s wieder so schlimm?« Die Sorge in der Stimme ihrer Mutter trieb ihr Tränen in die Augen. Sie kam sich vor wie eine Fünfjährige.
    Ein Knarren, die Bodendiele am Fußende des Bettes, dann noch eins, und das Gewicht ihrer Mutter drückte die Seite der Matratze hinunter, als sie sich auf die Bettkante setzte. Eine Hand legte sich oben auf ihren Kopf und streichelte ihn. Ginny spürte die nächsten Tränen des Tages über die rechte Wange und aufs Kissen laufen.
    »Möchtest du was essen, Herzchen? Es ist schon fast halb zwei.«
    Ginny schüttelte den Kopf. Sie hatte seit gestern nichts gegessen, und ihr tat der Magen vor Hunger weh, aber schon bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel. Sie hasste ihren Körper mit seinen Rundungen und Wölbungen, die diesen Mann zu ihr hingezogen hatten. Mit jedem Tag, der verging, wurden sie weniger und flacher, sah sie

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