Crescendo
Gedankenleserin, klopfte an die Tür. Ginny wickelte sich rasch ein Badetuch um und öffnete.
»Hier ist dein Kaffee. Hunger?«
Ginny merkte, dass sie tatsächlich Appetit hatte, auch das zum ersten Mal seit Tagen. Sie nickte.
»Weißt du, worauf ich wirklich Lust hätte?«
Ihre Mutter lächelte. »Nein, worauf denn?«
»Rührei mit Toast und Schinken.«
Ihre Mutter machte ein langes Gesicht. »Mit Toast könnte ich dienen, aber gestern Abend hat dein Dad die letzten Eier mit Schinken gegessen.«
»Ist nicht schlimm.« Aber es war schlimm, Ginny fühlte sich betrogen.
»Sieh mich nicht so an, Schatz. Weißt du was, ich laufe rasch rüber zum Laden an der Ecke, während du dich anziehst.«
Ginny spürte ein angstvolles Ziehen im Bauch. Das hieß, sie wäre allein im Haus. Sie ermahnte sich selbst, nicht so albern zu sein. Ihre Mutter wäre ja nur ein paar Minuten weg.
»Es macht dir auch nichts aus?«
»Überhaupt nicht. Ich bin gleich wieder da, dann föhne ich dir die Haare und mache uns beiden ein verspätetes Mittagessen.«
Ginny hörte, wie ihre Mutter Schlüssel und Handtasche nahm und die Haustür fest hinter sich zuzog. Es war nur ein kleines Haus, und sie kannte alle seine Geräusche von Kindheit an. Sie löste das Badetuch und fing an, sich sparsam mit der Bodylotion einzucremen, schließlich war es die Lieblingslotion ihrer Mutter.
Ein lautes Klicken ließ sie zusammenfahren. Sie lauschte absolut reglos, wie erstarrt, mit der Lotionflasche in der linken Hand. Das Haus war ruhig, die einzigen Geräusche waren das Brummen des Kühlschranks aus der Küche und das Ticken des Durchlauferhitzers. Vielleicht war das das Geräusch gewesen, das sie so erschreckt hatte, aber es hatte sich anders angehört, genauso, als würde die Hintertür zugezogen.
Sie atmete langsam aus und stellte die Lotion weg, alle Freude am Luxus war dahin. Sie wurde sich ihrer Nacktheit unangenehm bewusst. Ihre Unterwäsche war noch immer im Schrank, aber sie zog sich trotzdem die Jeans an, lauschte dabei angestrengt auf das leiseste Geräusch. Alles ruhig. Sie zog den Reißverschluss langsam zu, fast lautlos. Ihr T-Shirt kam als Nächstes. Sie streifte es sich über den Kopf, fand es unerträglich, die Ohren auch nur eine Sekunde lang bedeckt zu haben, hielt dann wieder die Luft an und lauschte. Nichts.
Ihre Mum hatte die Badezimmertür nur angelehnt. Ginny schlich hin und legte die Finger auf die Klinke. Sie zog die Tür ein paar Zentimeter auf und spähte hinaus. Plötzlich hörte sie die unterste Stufe der Treppe knarren, absolut unverkennbar. Da war jemand! Ihr Mund wurde trocken. Ohne die Augen von der Treppe vor ihr zu nehmen, tastete sie nach dem Türriegel und schloss die Finger darum, damit sie ihn sofort vorschieben konnte, wenn sie die Tür zuknallen musste. Wer auch immer auf der Treppe war, er war offenbar stehen geblieben, denn sonst hätte sie jetzt schon den Kopf sehen müssen. Sekunden verstrichen, es kam ihr vor wie Minuten.
Und plötzlich war er da, entsetzlich, sprang die letzten drei Stufen auf sie zu, ein Messer in der Hand. Sie schrie auf und knallte die Tür zu, riss dabei noch reflexartig den Gürtel vom Bademantel ihres Vaters zurück, der fast eingeklemmt worden wäre. Er warf sich mit voller Wucht gegen die Tür, genau in dem Moment, als der Riegel einrastete, und rüttelte an der Klinke, versuchte vergeblich, sich Einlass zu verschaffen. Er brüllte etwas, abscheuliche, obszöne Beschimpfungen, die ihren Kopf füllten und sie in Panik versetzten.
Ginny schrie erneut. Wie lange würde der Riegel halten? Es war bloß ein kleines Aluminiumteil, das nur noch von zwei Schrauben gehalten wurde. Die fehlenden waren auch im Laufe der Jahre nicht ersetzt worden, weil der Riegel nur zum Schutz der Intimsphäre da gewesen war, nicht des Lebens. Bis jetzt.
Er warf sich immer und immer wieder gegen die Tür. Das Holz ächzte unter den wuchtigen Angriffen, und Ginny schrie noch lauter. Sie sah sich um, verrückt vor Angst. Das Fenster über dem Waschbecken ließ sich nur kippen. Sie riss die Gardine beiseite und suchte nach irgendetwas, um die Scheibe einzuschlagen. Eine mit duftenden Trockenblumen gefüllte Marmorente stand auf der Fensterbank. Ginny packte sie und schleuderte sie mit aller Kraft gegen die Scheibe, während die Tür hinter ihr bedrohlich knarrte.
Das Glas zersplitterte, und Scherben flogen durch den kleinen Raum. Mit ihren nackten Füßen trat sie auf eine, spürte aber keinen Schmerz.
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