Crescendo
Nein, verbesserte sie sich, in erster Linie war er Vater.
Sie ließ die Zeitungen für spätere Gäste im Café liegen und ging die steile Straße hinauf zu dem Internetcafé. Außer dem dünnen, hungrig aussehenden Mann hinter der Theke war das Café leer. Als sie auf die eingegangenen E-Mails blickte, spürte sie gleich wieder die alte Unruhe. Außer einer neuen Nachricht von ihrem Bruder hatte sie etliche E-Mails vom Präsidium in Harlden bekommen, die sie ungeöffnet löschte, sowie eine von Fenwick. Zum Glück waren von Pandora keine dabei. Ihr Stalker hatte also endlich die Lust verloren.
Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Mail von Fenwick.
Liebe Nightingale (Verzeihung, aber der Name passt zu Ihnen), wir versuchen verzweifelt, Sie zu finden. Es bestehen äußerst schwerwiegende Gründe, um Ihre Sicherheit besorgt zu sein. Ich möchte das nicht per E-Mail erläutern, aber die Dringlichkeit wird Ihnen hoffentlich klar werden, wenn ich sage, dass wir einen Komplizen vermuten und fürchten, dass er da weitermacht, wo W. G. aufgehört hat.
Wir müssen davon ausgehen, dass er es auf Sie abgesehen hat.
Bitte nehmen Sie die Gefahr ernst, und rufen Sie mich an. Meine Handy-Nummer haben Sie.
Mit bestem Gruß Andrew Fenwick
»Schlechte Nachrichten?« Der Mann hinter der Theke hatte sie beobachtet.
»Wie bitte?«
»Sie sehen so verstört aus.«
»Nein, alles in Ordnung, danke.«
Aber es war weiß Gott nicht alles in Ordnung. Sie dachte an die Zeitungen, die einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung des Mädchens und anderen Verbrechen erwähnt hatten, und an Fenwicks Anwesenheit bei der Pressekonferenz. Falls David Smith Verbindung zu Griffiths hatte, wäre das eine Erklärung dafür.
»Könnte ich mal kurz telefonieren?«
»Hier geht das nicht, aber unten am Hafen ist eine Telefonzelle. Eigentlich hätte ich ja gedacht, dass so eine Klassefrau wie Sie ein brandneues Handy hätte.« Er grinste und zeigte unregelmäßige Zähne und mehr Zunge, als Nightingale lieb war.
Sie antwortete ihm nicht mal. Der plumpe Annäherungsversuch war ohnehin nur aufgesetzt. Sie sah ihm an, dass er in Wahrheit kein Interesse an ihr hatte. Und sie würde ihm auf keinen Fall verraten, dass diese »Klassefrau« einen leeren Akku im Handy hatte und in einer Ruine aus dem siebzehnten Jahrhundert ohne elektrischen Strom wohnte. Sie ging zu der Telefonzelle, wählte die Nummer des Präsidiums in Harlden und bat, mit Inspector Fenwick verbunden zu werden. Annes Stimme war unverkennbar.
»Tut mir Leid. Der Chief Inspector ist unterwegs. Kann Ihnen vielleicht jemand anders weiterhelfen?«
»Hier spricht Louise Nightingale. Er hat versucht, mich zu erreichen.«
»Ach, Louise! Gott sei Dank. Hier machen sich alle schreckliche Sorgen um Sie. Geht’s Ihnen gut?«
Nightingale verkrampfte sich innerlich. Die Fragerei ging schon los.
»Besser als je zuvor. Ich versuch’s auf seinem Handy.«
»Aber ich könnte doch jemand anderen an die Strippe holen.«
»Nein. Nicht nötig. Ich bräuchte nur seine Handy-Nummer.«
Sie legte auf und atmete tief durch, bevor sie erneut wählte. Der Ruf ging direkt auf seine Mailbox, also hinterließ sie eine kurze Nachricht, einschließlich der Nummer von ihrem Handy. Jetzt musste sie nur noch eine Möglichkeit finden, den Akku aufzuladen. Ziemlich weit den Berg hoch war ein altes Gasthaus. Wenn sie sich dort einen Kaffee bestellte, würden die ihr vielleicht erlauben, das Handy aufzuladen. Die Kellnerin tat ihr gern den Gefallen. Nightingale trank in Ruhe ihren Kaffee und ließ sich Fenwicks Warnung durch den Kopf gehen. Ein Komplize … dass er da weitermacht, wo W. G. aufgehört hat … müssen davon ausgehen, dass er es auf Sie abgesehen hat. Hier würde sie kein Mensch finden. Die Nachricht bedeutete höchstens, dass sie ihre Rückkehr nach Harlden noch etwas hinausschieben sollte, was ihr gar nicht schmeckte, da sie sich nun mal entschlossen hatte abzureisen.
Sobald das Telefon aufgeladen war, ging sie zur Kirche, um Wasser aus dem Taufbecken zu holen. Es kam ihr vor wie ein Sakrileg, sich unerlaubt etwas so Heiliges zu nehmen, aber sie hoffte, dass Gott ihr vergeben würde. Sie nahm das Wasser mit zu dem Ebereschenwäldchen, wo sie feststellte, dass sie doch endlich beten konnte. Die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen, dann träufelte sie das Wasser auf den Grabstein. Ruhig sah sie zu, wie die Tropfen zusammenliefen und dann allmählich verdunsteten. Als
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