Crescendo
dunkle Klecks schrumpfte, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Die Einsatzleitung hatte ihr gesagt, sie solle sich nicht von der Stelle rühren, bis jemand sie ablösen kam. Sie zählte die Sekunden nicht mehr, maß die Zeit nur noch daran, wie oft sie in der Minute nieste. Der bisherige Rekord lag bei sechs Mal.
Jedes Gelenk in ihrem Körper tat weh, sogar die Knöchel in den Fingern und Zehen pochten. Gelegentlich verschwamm ihr alles vor den Augen, nichts Dramatisches, bloß eine leichte Trübung an den Rändern des Gesichtsfeldes. Was für ein Virus sie sich bei Blite auch eingefangen hatte, es schien sich rasend schnell in ihrem Körper auszubreiten, und ihre Kräfte schwanden rasch. Um ein Uhr trank sie den letzten Rest von ihrem Wasser und versuchte, einen Apfel zu essen, den sie mitgebracht hatte. Nach einigen halbherzigen Versuchen hineinzubeißen, warf sie ihn weg. Rike war nicht zurück in die Wohnung gekommen, und er hatte noch immer ihr Funkgerät.
Von draußen kam ein Geräusch, nicht beunruhigend, bloß ungewöhnlich. Sie spähte zum Fenster hinaus, und Richards Kopf tauchte über einer Mauer auf, aber weder er noch sie konnte irgendetwas entdecken.
Sie hörte wieder ein Geräusch, diesmal eindeutig ein lautes Rufen, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Auf der anderen Seite des Platzes, zirka zweihundert Meter entfernt, sah sie zwei Gestalten um die Ecke schleichen. Junge Burschen, einer höchstens sechzehn, der andere noch jünger. Sie versteckten sich, dermaßen angespannt, dass Nightingale es selbst auf diese Entfernung spüren konnte, wie zum Sprung bereite Katzen. Ein alter Mann kam aus einem Durchgang auf den Platz gelaufen und blickte ängstlich über die Schulter. Die Bande hatte sich anscheinend aufgeteilt – in Treiber und Fänger.
Nightingale musste tatenlos zuschauen, wie die beiden Jungs ihrem Opfer auflauerten, sie konnte ohne Funkgerät keine Hilfe rufen. Der alte Mann hatte seine Angreifer fast erreicht, doch der Platz blieb leer. Nightingale musste sich entscheiden – zuschauen und warten, in der Hoffnung, dass Hilfe kam, oder ihr Versteck aufgeben, um den alten Mann vor Schaden zu bewahren, aber mit dem Risiko, dass die Angreifer das Weite suchten. Im Grunde hatte sie keine Wahl.
Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, aber sie bewegte sich, so schnell sie konnte, und legte dabei die Schutzweste an. Draußen war es, als würde sie durch Wasser laufen. Der Platz war riesig, der alte Mann viel zu weit entfernt. Einer der Jungs hatte schon einen Arm um seinen Hals.
»Polizei.« Ihr Schrei war ein schwaches Krächzen. Sie räusperte sich und versuchte es erneut. »Polizei!«
Schon besser. Ein weiterer Ruf erschallte, wie ein Echo, »Polizei«, aus dem Mund von Richard, der weit hinter ihr auf den Platz gelaufen kam. Auch er trug seine Schutzweste.
Die Teenager ließen ihr Opfer einfach zu Boden fallen und rannten auf Nightingale zu. Sie hatte gedacht, sie würden abhauen, doch sie hatte ihr Aggressionspotenzial unterschätzt. Als sie schon ziemlich nah waren, erkannte sie an ihren Augen, dass sie unter Drogen standen. Dann sahen die beiden Richard. Sie zögerten, und der jüngere der beiden wich Richtung Durchgang zurück. Zu zweit gegen eine Frau hätten sie vielleicht eine Chance gehabt, aber Richard erweckte den Eindruck, dass er zu allem entschlossen war.
Nightingale verlangsamte ihren Laufschritt, damit Richard sie einholen konnte.
»Los, komm. Wir machen die Biege!« Der Jüngere wollte Reißaus nehmen, aber sein Kumpel achtete nicht auf ihn. Mit loderndem Blick ging er vor Richard in Angriffsstellung.
»Verzieh dich, du Arschloch.«
Richard blieb stehen, als er Nightingale erreicht hatte. Der Junge fuchtelte wie wild mit einem Messer herum, während Richard die Hände hochhielt, Handflächen nach außen, als Friedensgeste.
»Ist ja gut, Junge. Lass das Messer fallen.« Er war außerhalb der Reichweite des durchgedrehten Burschen, aber nicht vor einem plötzlichen Angriff geschützt.
Der Junge hörte gar nicht zu. Er schwang jetzt wieder aufgeregt das Messer und tanzte von einem Fuß auf den anderen. Der alte Mann lag reglos auf der Erde.
»Verzieh dich, du verdammtes Arschloch. Einen Schritt und ich mach dich kalt.«
»Immer mit der Ruhe. Ich tu ja nichts, ich bleib einfach nur hier stehen.« Richard warf Nightingale einen Blick zu und flüsterte leise aus den Mundwinkeln.
»Wo bleibt die Verstärkung? Ich hab sie angefordert. Die müssten längst da
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