Crescendo
Gesicht.
»He, trödeln Sie nicht rum, der Superintendent will Sie sprechen.« Cooper schüttelte ungehalten den Kopf.
Er sah ihr nach, wie sie durch die Tür schlurfte, am Ende mit seinem Verständnis. Wie seine Mutter immer gesagt hatte: »Wer sich nicht selbst hilft, dem ist nicht zu helfen.«
»Recht hatte sie«, knurrte er vor sich hin, »verdammt Recht.« Zehn Minuten später war sie wieder da, kreidebleich im Gesicht, aber gefasst.
»Noch einen Monat. Ende Juli werde ich versetzt.« Sie sprach es aus, als wäre es ein Todesurteil. Cooper versuchte, sie mit ein paar Plattitüden aufzumuntern, doch er konnte nicht sagen, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Achselzuckend wandte er sich wieder dem Papierkram vor sich zu. Er musste später ins Gericht, wo einer seiner Fälle verhandelt wurde. Als er um drei zurück war, sah er zu seinem Erstaunen, dass Nightingale nicht an ihrem Schreibtisch saß. Er erkundigte sich nach ihr und erfuhr, dass sie wieder früher Feierabend gemacht hatte. Fluchend rief er bei ihr zu Hause an, aber sie ging nicht dran. Nach mehrmaligen vergeblichen Anläufen wählte er ihre Handynummer und sprach ihr eine Nachricht auf die Mailbox.
Den Rest des Nachmittags versuchte er es immer wieder auf beiden Nummern, doch stets ohne Erfolg. Schließlich beschloss er, auf dem Weg nach Hause bei ihr vorbeizufahren. Er sagte sich, dass sie schließlich nicht einfach ohne Erklärung vor Dienstschluss verschwinden konnte; so kam er sich nicht ganz so albern vor.
Die Wohnung war zu heiß und die Luft zu stickig. Normalerweise hätte Nightingale die Fenster aufgelassen, aber aus Sicherheitsgründen hatte sie sie lieber geschlossen. Jetzt, wo sie zu Hause war, machte sie sie ganz weit auf, auch wenn das riskant war. Die Brise von draußen bewegte allmählich die schwüle Luft, während sie sich eine ausgebeulte, abgeschnittene Jeans und ein weißes Top anzog. Wie die Wohnungstür waren jetzt auch die Fenster mit einem Riegelschloss versehen. Die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen hatten gefruchtet, denn ihre Wohnung war nach wie vor unangetastet.
Sie hatte keinen Appetit und wollte sich nicht zum Essen zwingen. In ihr war etwas Selbstzerstörerisches am Werk, an dem sie festhielt wie eine verstörte Jugendliche. Sie goss sich ein großes Glas gekühlten Sauvignon ein und knabberte an einer Brotstange, während sie ihren Anrufbeantworter abhörte.
Nur vier Anrufe, aber jedes Mal war einfach aufgelegt worden. Sie zuckte die Achseln und löschte die Anrufe, zog den Telefonstecker aus der Dose und schaltete ihr Handy aus. Sie hatte fest vorgehabt, jemandem im Präsidium von den Anrufen und E-Mails zu erzählen, aber dann war sie in Quinlans Büro zitiert worden und hatte sich anschließend in tiefes Selbstmitleid fallen lassen.
Der Computer meldete eine neue Mail von der Server-ID, die sie inzwischen fürchtete. Sie drückte die Eingabe-Taste und wartete, was passierte. Ein schwarzer Kasten mit weißer Schrift erschien mitten auf dem Bildschirm: Warnung: nicht jugendfreies Foto. Sie trank rasch noch einen Schluck Wein und ballte die Hände unbewusst zu Fäusten.
Es dauerte lange, bis sich das Bild zusammensetzte. Abstrakte Farbblöcke blitzten auf und formierten sich allmählich zu einem erkennbaren Ganzen. Sie schnappte nach Luft, als sie ein echt wirkendes Tatortfoto erkannte. Der nackte Körper einer Frau lag verdreht da, die Füße am oberen Bildschirmrand, den linken Arm über den nackten Unterleib gelegt. Irgendwie wirkte die Hand beunruhigend vertraut. Weiße Lücken füllten den Rest des Fotos aus.
Der Oberkörper erschien in einer plötzlichen Anhäufung von Farben, bedeckt mit Blutergüssen und Schnittverletzungen, dann der tote Kopf mit einer entsetzlichen Wunde an der Gurgel. Nightingale brauchte volle dreißig Sekunden, bis sie merkte, was da nicht stimmte. Das war keine anonyme Horrormaske, von der sie angestarrt wurde. Es war ihr eigenes Gesicht.
Es war ihr Haar, das mit geronnenem Blut verklebt war, ihre Augen, die blicklos in die Kamera starrten, ihr Hals, der gewürgt und dann aufgeschlitzt worden war.
Der Geschmack von bitterem Wein stieg ihr in die Kehle, und sie hätte sich fast übergeben müssen. Wer immer der Absender war, er hatte sich große Mühe gegeben, sein Opfer herzurichten. Es war ein akribisches und präzises Werk. Sie sah sich noch einmal die Hand an, die über dem nackten Bauch lag. Kein Wunder, dass sie ihr bekannt vorgekommen war – es war ihre
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