Crescendo
Fenwick spürte den unerklärlichen Drang, ihr einen Arm um die Schultern zu legen und sie zu drücken. Jemand musste sich um sie kümmern, und soweit er wusste, war da sonst niemand. Seine Gefühle mussten ihm anzusehen sein, denn sie wurde rot. Er streckte eine Hand aus.
»Dann viel Glück. Ich hoffe, es wird alles gut.«
Sie gab ihm die Hand und hielt sie fest, während sie zu ihm hochblickte, die Augen voller Fragen.
»Ja?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nichts, schon gut.«
Fenwick sah ihr nach, als sie sein Büro verließ, mit geradem Rücken, fast zackig, und ihn beschlich das Gefühl, dass ihm irgendetwas Wichtiges entgangen war, aber er wusste nicht, was.
»Melden Sie sich zwischendurch mal«, rief er noch, aber sie schien ihn nicht gehört zu haben. Er wollte ihr nach, doch da klingelte das Telefon, und er nahm automatisch den Hörer ab. Es war die Sekretärin des Superintendent, um ihm zu sagen, dass die Besprechung bereits begonnen hatte. Er zuckte die Achseln und machte sich auf den Weg.
Cooper war es nicht gelungen, Nightingales Stalker aufzuspüren. Die Computertechniker hatten nicht herausfinden können, woher die E-Mails stammten, und auch die Erkundigungen bei Nightingales Nachbarn im Haus hatten nichts ergeben. Er war Misserfolge gewohnt, welcher Polizist war das nicht, und normalerweise ließ er dergleichen von sich abprallen, aber diesmal bekam er davon Sodbrennen, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihn die Sache wurmte.
Er sprach mit Fenwick darüber.
»Ich ertrage den Gedanken einfach nicht, dass sie terrorisiert wird. Das ist so eine Gemeinheit.«
»Sie wird einen Monat nicht da sein – sie hat Urlaub genommen. Das gibt uns etwas Zeit, den Scheißkerl zu finden.«
Am nächsten Tag erhielt Cooper einen Anruf von einer Nachbarin, die Lärm aus Nightingales Wohnung hörte.
»Ist immer noch was zu hören?«
»Es ist ruhiger, aber ich glaube, es ist immer noch jemand drin.«
Er sagte der Frau, sie solle ihre Wohnung nicht verlassen, rief dann sofort Fenwick an, und Minuten später fuhren die beiden in einem Streifenwagen durch Harlden, am Steuer ein uniformierter Kollege, den Fenwick bei jedem Abbremsen beschwor, er solle schneller fahren. Sie riefen bei Nightingale an, doch sie meldete sich nicht. Auch nicht auf dem Handy.
Fenwick postierte einen Streifenbeamten an der Haustür und lief gefolgt von Cooper und einem weiteren Uniformierten die Treppe hinauf. Die Nachbarin, die die Sirene gehört hatte, stand schon mit einem Ersatzschlüssel vor der Tür.
»Ich hab sie gestern zuletzt gesehen, als sie bei mir war, um mir den Schlüssel zu geben, weil sie Urlaub macht. Ich hab Sie sofort angerufen, als der Lärm losging.«
»Jetzt ist es still.«
»Ja, seit zehn Minuten.«
Fenwick bat sie, in ihrer Wohnung zu warten, und wollte Nightingales Tür aufschließen, als er sah, dass sie aufgebrochen worden war. Ein Bild der Verwüstung bot sich ihm. Die hübsche, aufgeräumte Diele war vom Boden bis zur Decke mit obszönen Graffiti besprüht. Bilder waren aus ihren Rahmen gerissen, Scherben von einem zerschmetterten Spiegel knirschten unter seinen Schuhen, als er eintrat.
Er wies den Polizisten an, vor der Tür zu warten, und winkte Cooper herein. Die Küche war übersät mit zerschlagenem Geschirr und Glasscherben. Im Wohnzimmer waren die Vorhänge und das Sofa mit einem Messer aufgeschlitzt, Möbel zerschlagen und der teure CD-Player demoliert worden. Auch hier waren die Wände vollgesprüht. Nur das Badezimmer war verschont worden. Fenwick tränten die Augen von dem Geruch nach Bleiche, die über einen Berg Kleidungsstücke auf dem Bett geschüttet worden war.
»Großer Gott, die Spurensicherung soll sofort herkommen. Wir müssen Nightingale finden. Lassen Sie nach ihrem Wagen fahnden und die Flughäfen überprüfen. Wenn sie im Ausland ist, wäre das eine Erklärung dafür, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hat.«
Cooper spürte, dass sein Vorgesetzter versuchte, sich durch Reden zu beruhigen. Er hatte ihn noch nie so aufgewühlt erlebt.
»Sie hat einen Bruder. Versuchen Sie, ihn zu erreichen. Vielleicht weiß er, wo sie ist.«
Cooper fand die Telefonnummer von Simon Nightingale in einem abgegriffenen Adressbuch und wählte sie. Eine Frau meldete sich.
»Was ist denn passiert?«
»In ihre Wohnung ist eingebrochen worden, und wir müssen sie erreichen.«
»Na ja, sie wird auf der Arbeit sein. Wieso rufen Sie bei uns an?«
Er erklärte ihr, dass Nightingale Urlaub genommen
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