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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Corley
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die oben an den Klippen zelteten. Sie waren älter, achtzehn oder neunzehn, aber Ihr Vater war nun mal ein frühreifer Bursche. Er hat sich von zu Hause weggeschlichen und bei ihnen im Zelt übernachtet.
    Und so ging das immer weiter, bis er eine Affäre mit der Frau von einem seiner Lehrer hatte. Es gab einen Skandal, und Ihr Vater musste sein Abitur an einer anderen Schule machen. Schließlich ging er auf die Universität.«
    »Wo er dann meine Mutter kennen lernte?«
    »Ja, aber das hat er jahrelang geheim gehalten, bis nach seinem Examen. Wenn er in den Semesterferien nach Hause kam, war ich für ihn da. Heute weiß ich, dass ich für ihn eine praktische Lückenbüßerin war, aber damals dachte ich, ich sei seine große Liebe.« Sie lachte über sich selbst, aber Nightingale hörte den kummervollen Unterton heraus.
    »Es muss Ihnen furchtbar weh getan haben, als er sich mit meiner Mutter verlobt hat.«
    »Es war schrecklich, aber ich war überzeugt, dass das mit den beiden nicht lange halten würde. Sie war ganz anders als seine anderen Frauen.« Sie zögerte, sprach dann mit entschlossener Miene weiter. »Sie war nicht gerade nett, wie ich leider sagen muss. Direkt nach der Hochzeit haben sie sich fürchterlich gestritten und gleich wieder getrennt.«
    »Weswegen haben sie sich gestritten?«
    Amelia blickte weg.
    »Erzählen Sie es mir, bitte, ich muss es wissen.«
    »Ihr Vater hatte in den Monaten vor der Hochzeit eine letzte Affäre. Irgendjemand aus dem Dorf hat seiner frisch Angetrauten einen Brief geschickt, der auf sie wartete, als sie aus den Flitterwochen zurückkamen. Sie hat ihn verlassen und ist zu ihren Eltern gezogen.«
    »Ganz schön gemein, einer Braut so einen Brief zu schreiben. War mein Vater so unbeliebt?«
    »Ein bisschen schon, aber im Grunde ging es um die Frau, mit der Ihr Vater die Affäre hatte, sie war den Leuten im Dorf ein Dorn im Auge. Einmal wurde sie mit dem Sohn des Kneipenwirts erwischt, beide splitterfasernackt auf einem Grab auf dem Friedhof. Ein anderes Mal ist sie mit einer Hand voll Männern nackt im Meer schwimmen gegangen. Mag sein, dass die Geschichte von der anschließenden Orgie erfunden war, aber ihr Ruf war damit besiegelt. Dafür, dass sie nur knapp anderthalb Jahre hier gelebt hat, hat sie eine Menge Erinnerungen und Legenden hinterlassen. Sie hat zu viele Herzen gebrochen, bis Ihr Vater ihr das Herz brach.«
    »Wie hieß sie?«
    »Na, es war Lulu, ich dachte, das wüssten Sie. Sie hat es mit Männlein und Weiblein getrieben, wie wir damals sagten.«
    »Ich hatte keine Ahnung. Dann ist mein Vater also wieder zu Lulu gegangen, als meine Mutter ihn verlassen hat?«
    »Vermutlich. Sie lebte damals mit Ihrer Tante zusammen, auf Mill Farm, und Ihr Vater war immer übers Wochenende da. Dann hat seine Frau sich wieder mit ihm versöhnt, sie war schließlich schwanger, und sowohl ihre als auch seine Eltern haben die beiden unter Druck gesetzt. Aber genug von der Vergangenheit. Ich würde mir gern den alten Obstgarten ansehen.«
    Als die Schatten länger wurden, verabschiedete Amelia sich. An der Haustür stellte Nightingale doch noch die Frage, die ihr schon den ganzen Nachmittag nicht mehr aus dem Kopf ging.
    »Dann bedauern Sie es also, meinen Vater gekannt zu haben?«
    Amelia blickte entsetzt.
    »Natürlich nicht.«
    »Aber Sie haben gesagt, Sie hätten ihn all die Jahre geliebt. Wenn Sie ihm nie begegnet wären, hätte Ihnen das nicht viel Kummer erspart?«
    Amelia schüttelte den Kopf, als hätte Nightingale etwas Dummes gesagt.
    »Einen ganzen Sommer lang, als ich fünfzehn war, hat er mich geliebt.«
    »Aber das muss doch noch schlimmer sein. Zu wissen, wie es ist, vom Objekt seiner Begierde geliebt zu werden, wenn auch nur kurz, ist doch bestimmt viel schlimmer, als wenn man es nicht weiß.«
    »Nein. Für mich war es auf jeden Fall besser, jemanden geliebt und wieder verloren zu haben, als überhaupt nie geliebt zu haben. Banal, aber wahr.«
    Nightingale schüttelte heftig den Kopf.
    »Ich stell mir das grausam vor. Wie jemand, der von Geburt an blind ist, der lernt, damit zu leben, und nicht weiß, was ihm entgeht. Dann wacht er eines Morgens auf und kann sehen! Die Farben, das Sonnenlicht, die Bäume, das Lächeln auf den Gesichtern der Menschen, die Augen seiner Lieben. Dann geht er ins Bett und wacht am nächsten Morgen wieder blind auf. Jetzt muss er aber mit dem Wissen weiterleben, was es für schöne Dinge auf der Welt gibt, die er nicht sehen

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